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Ramona Pisal ist seit 1. März Präsidentin des Landgerichts Potsdam.

© Andreas Klaer

Interview | Landgerichtspräsidentin Ramona Pisal: „Es gibt bislang keinen Notbetrieb“

Die neue Präsidentin des Landgerichts Potsdam, Ramona Pisal, spricht über die Justiz in Coronazeiten, Kinderbetreuung und #metoo.

Potsdam - Frau Pisal, Sie haben Ihr neues Amt Anfang März angetreten. Kurz darauf kam die Coronakrise. Hat das Ihren Einstieg als Landgerichtspräsidentin erschwert?
 

Ja, das war eine starke Einschränkung. Wenn man so ein Amt antritt, ist es üblich, dass man sich erst einmal vorstellt, Abläufe und Strukturen kennenlernt. Das war so nicht möglich. Viele offizielle Termine, darunter meine Amtseinführung am 18. März, mussten abgesagt werden. Bis zum Potsdamer Oberbürgermeister habe ich es am Donnerstag in meiner ersten Woche noch geschafft, das war es dann.

Danach war Ihr Arbeitsalltag von Corona bestimmt?

Schon ab Beginn meiner zweiten Woche im Gericht haben wir Pläne ausgearbeitet, wie es unter den neuen Bedingungen weitergehen kann. Wir haben versucht, Maßnahmen zu ergreifen, um das Infektionsrisiko möglichst effizient in den Griff zu bekommen. Ich möchte auf keinen Fall, dass sich hier im Haus jemand ansteckt, weil wir etwas versäumt haben. Es bleibt immer ein Restrisiko, aber bislang hatten wir keinen Coronafall.

Wie haben Sie das erreicht?

In den ersten Wochen mussten wir improvisieren. Von zu Hause aus zu arbeiten, ist bei uns in vielen Bereichen nicht möglich. Also sind wir dazu übergangen, in den Geschäftsstellen räumlich und zeitlich zu trennen, die Mitarbeiterinnen arbeiteten zeitversetzt. Für gefährdetes Personal und Besucher ist Mund-Nasen-Schutz vorhanden.

Was ist mit den Verhandlungen?

Bei Verhandlungen haben wir früh damit begonnen, die Säle umzugestalten, um die Abstände zwischen den Beteiligten zu gewährleisten, und Anwesenheitslisten zu führen, um mögliche Infektionsketten nachvollziehen zu können. Aber räumlich sind wir schnell an unsere Grenzen gestoßen: Theoretisch können wir im Haus Verhandlungen mit bis zu acht Angeklagten stemmen. Unter den gegenwärtigen Umständen, bei Einhaltung der Abstandsregeln, ist das nicht möglich.

Könnten Sie auf andere, auch zivile Gebäude ausweichen?

Das ist theoretisch möglich, soll aber die Ausnahme bleiben. Wir sind in der komfortablen Situation, dass wir das benachbarte Landesverfassungsgericht anfragen dürfen. Aber eine Dauerlösung ist das nicht. Ich rechne damit, dass wir trotz Lockerungen – oder gerade auch mit Lockerungen – Hygiene- und Abstandsregeln das ganze Jahr über beibehalten werden. Deswegen müssen wir weg von den Provisorien. Wir wollen unsere Säle so ausstatten, dass wir ohne Mindestabstände verhandeln können – etwa, indem wir Trennscheiben einbauen.

Wie viele Prozesse mussten verschoben werden?

Eine Zahl habe ich nicht. Es wurden Prozesse verschoben. Aber nicht, weil sie mussten, sondern weil die Richter das nach kritischer Prüfung so entschieden haben. Bei uns ist kein Strafprozess wegen Corona „geplatzt“. Oft wurden die Verhandlungen auch auf ausdrücklichen Wunsch der Beteiligten verlegt, etwa wenn die Aussage von Zeugen mit einer weiten Anreise verbunden gewesen wäre. Der Bundestag hat inzwischen entschieden, dass strafgerichtliche Hauptverhandlungen ausnahmsweise für höchstens drei Monate und zehn Tage unterbrochen werden dürfen. Bislang betrug die Unterbrechungspause maximal einen Monat. In Zivilsachen kann zudem manches im schriftlichen Verfahren erledigt werden, den Parteien können Vergleichsvorschläge unterbreitet werden. Diese Möglichkeit wurde bei überschaubaren Sachverhalten oder Verfahren von geringem Streitwert genutzt. Aber bei vielen Verfahren ist die mündliche Verhandlung unerlässlich, um sich ein Bild machen zu können.

Sehen Sie die Gefahr, dass Bürger durch die Krise das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren?

Ich hatte zunächst diese Sorge, weil mich die Formulierung „Gerichte im Notbetrieb“, die ich teilweise gelesen habe, beunruhigt hat. Dieser Eindruck darf sich nicht festsetzen, er ist auch nicht zutreffend. Es gibt hier im Landgericht Potsdam bislang keinen Notbetrieb. Wir arbeiten unter veränderten Bedingungen, manches ist heruntergefahren worden in den ersten zwei Monaten der Pandemie, die Öffnungszeiten wurden verkürzt. Aber: Die Rechtsprechung ist zu jeder Zeit gewährleistet. Und nun, mit der am Freitag verabschiedeten, neuen Eindämmungsverordnung, justieren wir auch wieder nach. Wir setzen wieder auf volle Präsenz im Haus.

Die Gerichte haben schon vor Corona beklagt, dass sie personell am Limit sind. Haben Sie Sorge, dass die Bugwelle der unerledigten Fälle nun größer wird?

Wenn man heute nicht spült, muss man später mehr spülen. Die Arbeit verschwindet ja nicht, indem man sie verlagert. Wir konnten in diesem Jahr erfreulicherweise mehr Proberichter einstellen, frei werdende Stellen dürfen nachbesetzt werden. Dadurch sollte der Rückstand abgebaut werden, den es ohnehin gibt, insbesondere in Strafsachen. Nun sehen wir, welche Mittel das Land aufbringen muss, um etwa Firmen in der Coronakrise zu unterstützen. Das darf nicht dazu führen, dass dann als Kompensation bei der Justiz wieder gespart wird.

Rechnen Sie damit, dass es im Zusammenhang mit Corona viele Verfahren geben wird, wegen Subventionsbetrug oder häuslicher Gewalt beispielsweise?

Betrugsverfahren werden uns sicher beschäftigen, auch Prozesse im Zusammenhang mit Bestellungen im Internet. Und ja: Frauen und Kinder sind in dieser Situation besonders gefährdet. Da werden vermutlich einige Fälle auf uns zukommen, die besonders traurig sind.

Sie haben sich noch als Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes für einen Paradigmenwechsel im Strafrecht eingesetzt: Seit Juli 2016 sind sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen einer Person strafbar. Haben inzwischen mehr Frauen Mut, Vorfälle anzuzeigen?

Die Gesetzesänderung hat möglicherweise nicht zu mehr Verurteilungen geführt, aber zu einer Bewusstseinsänderung. Dass große Hollywood-Regisseure stürzen, dass hohe Politiker aus Angst vor Enthüllungen freiwillig aus ihren Ämtern gehen, dass Geschädigte sich zusammentun – das war vor #metoo und der breiten öffentlichen Debatte undenkbar. Es gibt nun einen offeneren Umgang mit diesen Fragen, ein neues Selbstbewusstsein – übrigens nicht nur bei Frauen. Auch Männer sind betroffen, bei ihnen ist die Scham nach einer Belästigung sogar vielfach noch größer. Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, ob das Risiko, dass Frauen und Kinder unter der Coronakrise besonders leiden, ohne „Nein heißt Nein“ und die weiteren Gleichstellungsthemen, vor allem auch equal pay, also Einkommensgerechtigkeit, überhaupt in dem Maße thematisiert worden wäre. Denn damit meine ich nicht nur Gewalt, die durch Isolation begünstigt werden kann. Derzeit scheint aber vieles wichtiger zu sein als die Frage, wann denn die reguläre Kinderbetreuung wieder an den Start geht – obwohl es einen Rechtsanspruch darauf gibt. Jetzt wird oft so getan, als wäre Homeoffice die Lösung, auch generell für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber man kann nicht voll zu Hause arbeiten und gleichzeitig Kinder beschäftigen.

Haben Ihre Mitarbeiter Anspruch auf Notbetreuung?

Bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen ja, denn die Justiz ist als systemrelevant eingestuft worden. Aber ich vermute, dass wir zunächst nicht ganz oben auf dem Zettel gestanden haben. Da gehören wir aber hin. Gerade in Krisenzeiten ist eine funktionierende Justiz unverzichtbar. Und dafür brauchen wir hier Menschen an Bord. Unsere technische Ausstattung ist nicht so, dass wir überwiegend auf Präsenz verzichten könnten.

Sie haben sich auch für eine Quotenregelung eingesetzt. Inzwischen müssen 30 Prozent der Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen mit Frauen besetzt werden. Sie befürworten ein Parité-Gesetz, das in Brandenburg nun verabschiedet wurde. Wichtige Schritte?

Ja, sehr wichtig. Auch wenn es leider so ist, dass das Bundesgesetz über die dort ausgewiesenen Positionen hinaus nicht nachweisbar wirkt. Auf der freiwilligen Ebene bewegt sich nichts. Deswegen gibt es jetzt auch Überlegungen, das Gesetz zu erweitern. Insgesamt müssen Frauen auch in Führungspositionen angemessen vertreten sein.

2016 sind Sie zur Präsidentin des Landgerichts Cottbus ernannt worden. Sie waren die erste Frau in Brandenburg in so einer Position. Das ist gerade einmal vier Jahre her. Warum hat das so lange gedauert?

Grundsätzlich: Dafür gibt es ein ganzes Bündel an Gründen. Es hat auch damit zu tun, dass der Aufbau der Justiz im Land männlich geprägt war. Wenn es darum ging, Nachwuchs zu generieren, hat der Mann dann eher auf den Mann geschaut, der dazu noch flexibler war als die – wenigen – Frauen, oder eine Frau mit Kind. Teilzeit war bis vor Kurzem auch in der Justiz ein absolutes Frauenthema. Und ich möchte keine Klischees bedienen, aber es ist nun einmal so, dass weniger Frauen ungefragt „Hier“ rufen als Männer. Was nicht heißt, dass sich die Männer jetzt Sorgen machen müssen (lacht), die brauche ich auch. Ich glaube an die Effizienz von gemischten Teams. Das ist für die Entscheidungsfindung wichtig, aber auch für die Akzeptanz von Urteilen.

Ist Ihr frauenpolitisches Engagement auch Ergebnis Ihres persönlichen Erlebens? Sie haben als Studentin ein Kind bekommen, waren alleinerziehend.

Ja, ich weiß, was es heißt, mit Kind ganztägig zu arbeiten. Zu einer Zeit, in der Kinderbetreuung nicht das Übliche war. Ich habe in Köln gelebt, stamme aus einer sogenannten Hausfrauenehe. Meine Mutter gehörte noch zur Generation von Frauen, die nicht arbeiten durften ohne Einwilligung des Ehemannes. Ich wollte immer auf eigenen Füßen stehen, wirtschaftlich unabhängig sein. Als ich Richterin wurde, war ich die einzige Mutter in der Grundschulklasse meines Sohnes, die außer Haus arbeitete, war die Exotin. Ich musste mich immer dafür rechtfertigen, dass ich nicht zum Fackelnbasteln gekommen bin.

Wie haben Sie diesen Spagat geschafft? Das Kind mit ins Gericht zu nehmen, war vermutlich nicht die Lösung?

Das habe ich tatsächlich nur einmal machen müssen. Während einer Beweisaufnahme habe ich ihn in die Zuschauerreihen gesetzt. Er hat das Verfahren aufmerksam verfolgt. Vor der Einschulung hatte ich einen Platz in einer privaten Vorschule, aber die hat die Arbeitszeiten nicht voll abgedeckt. Ich hatte vor allem in der Familie viel Unterstützung. Wir haben das zusammen hinbekommen, aber es gab immer schwierige Situationen: Wenn das Kind plötzlich krank war, ich ungeplant weg musste und nicht klar war, wann ich wiederkomme. Diese Zerrissenheit – bei der Arbeit in Gedanken beim Kind und beim Kind in Gedanken bei der Arbeit – kann ich heute noch nachspüren. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen.

Ihr Sohn ist heute erwachsen, auch Jurist. Wie sieht er das?

Er sagt, er trägt es mir nicht nach, hat keine Rechnung mit mir offen. Als ich nach Potsdam gekommen bin, ließ sich der Alltag auch wesentlich besser organisieren. Jedenfalls ist es für ihn ganz selbstverständlich, dass Frauen und Männer voll arbeiten, auch in Führungspositionen, und auch als Eltern.

Sie sind 1994 aus Brandenburgs Partnerland Nordrhein-Westfalen nach Potsdam gekommen. Um die Justiz mit aufzubauen?

Ich war nicht der klassische Aufbauhelfer. Mein späterer Mann ist schon früh als Richter nach Potsdam gegangen, abgeordnet aus NRW – und war ganz begeistert. Ich bin mit meinem Sohn nachgekommen und war zunächst beim Amtsgericht Potsdam tätig. Die erste Zeit war sehr anspruchsvoll, es gab viel Neues zu lernen. Treuhandgesetz – das haben wir in Mönchengladbach nicht gebraucht. Und jetzt, am Landgericht, schließt sich der berufliche Kreis. Auch beim Spazierengehen ist das übrigens so: Ich mag lieber Rundwege. Ich gehe nicht gerne zurück.

Zur Person:

Ramona Pisal, 62, ist seit 1. März Präsidentin des Landgerichts Potsdam mit 55 Richterin und 120 Mitarbeitern. Sie folgte auf Ellen Chwolik-Lanfermann, die Ende Februar in den Ruhestand ging. Pisal wuchs im Rheinland auf und studierte in Gießen und Köln Jura. Zunächst arbeitete sie als Rechtsanwältin, anschließend trat sie in den richterlichen Dienst in Nordrhein-Westfalen ein und war am Landgericht Mönchengladbach tätig. 1994 wurde Pisal zum Amtsgericht Potsdam abgeordnet, war dort Zivilrichterin und später Vorsitzende eines Jugendschöffengerichts. Mit der Entsendung an das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) wurde sie 1997 in den richterlichen Dienst des Landes Brandenburg übernommen und als Richterin berufen. 2006 wurde sie Vorsitzende Richterin am OLG, war dort zeitweise auch Gleichstellungsbeauftragte. 2016 erfolgte ihre Ernennung zur Präsidentin des Landgerichts Cottbus. Von 2011 bis 2017 war sie Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, 2018 erhielt sie den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Ramona Pisal ist verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn und lebt im Potsdamer Norden. mak

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