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Im Interview: „Ein Rückfall ins 19. Jahrhundert“

Bildungswissenschaftler Henning Schluß über das Schreibenlernen und das Methodenverbot in der Mark.

An staatlichen Grundschulen im Land Brandenburg sollen Kinder ab dem kommenden Schuljahr nur noch nach der Fibel-Methode Schreiben lernen. Der Erziehungswissenschaftler Henning Schluß aus Oranienburg sieht das kritisch.

Herr Professor Schluß, das Bildungsministerium will die Lernmethode „Lesen nach Schreiben“ verbieten und allein die Fibel-Methode zum Lesen- und Schreibenlernen zulassen. Ist das der richtige Weg, um die Rechtsschreibfähigkeiten der Kinder zu verbessern?

Grundsätzlich muss man sich fragen, ob es für eine sinnvolle Bildungspolitik spricht, bestimmte pädagogische Methoden zu verbieten, jedenfalls solange sie nicht die Würde der Kinder herabsetzen oder zum Beispiel die Prügelstrafe wieder einführen wollen. In diesen Fällen ist es natürlich richtig, sie zu verbieten. Ich rede von anerkannten pädagogischen Methoden, die bestimmte Stärken und bestimmte Schwächen haben und die gut ausgebildete Pädagogen kompetent einsetzen und kombinieren können, um ihre Schüler optimal zu fördern. Es macht überhaupt keinen Sinn, aus diesem inzwischen gut gefüllten Koffer der Didaktik Par Ordre Du Mufti bestimmte Methoden auszuschließen und den Expertinnen in der Grundschulpädagogik einen Teil ihres Handwerkszeuges zu verbieten.

Aber Studien belegen doch, dass Kinder, die nach der Fibel-Methode lernen, bessere Leistungen erzielen. Zweifeln Sie die Aussagekraft dieser Studien an?

Nein, die aktuelle Studie aus NRW anzuzweifeln, die ja anscheinend einer der Auslöser der Verbotsinitiative war, besteht kein Grund. Sie bestätigt das, was wir schon länger wissen. Eigentlich müsste ich mich als Bildungswissenschaftler ja auch freuen, wenn die Bildungspolitik wissenschaftliche Untersuchungen zur Kenntnis nimmt und darauf politisch reagiert. Das Problem ist aber, wenn mit blindem Aktionismus reagiert wird, weil man die Aussagen der Studie gar nicht durchdrungen hat und dann die falschen Schlüsse zieht. Es ist in etwa so, wie wenn man eine Studie untersucht, ob Schraubenschlüssel oder Schraubenzieher das bessere Werkzeug sind, um Heizungen zu reparieren und die Studie herausfindet, dass Schraubenschlüssel in den meisten Fällen besser geeignet sind und das Ministerium für Klemptnereiwesen daraufhin verbieten würde, dass die Installateure vor Ort künftig Schraubenzieher einsetzen. Hier sieht man schnell, wie unsinnig das ist, denn einer Schlitzschraube steht man mit einem Schraubenschlüsselsatz relativ hilflos gegenüber, selbst dann, wenn die meisten Heizungen mit Muttern bestückt wären. 

Wie muss man die Studie denn Ihrer Meinung nach interpretieren?

Es ist wichtig zu berücksichtigen, wer da untersucht wurde und dann zu fragen, ob die Situation, in die man das übertragen möchte, eigentlich identisch ist. Die Methode des Lesenlernens durch Schreiben, die von Jürgen Reichen entwickelt wurde und die auch als Hamburger Methode bekannt ist, orientiert sich an der gesprochenen Sprache. Mithilfe einer Anlauttabelle können Erstklässler Buchstaben in den Wörtern die sie lesen sollen identifizieren und damit sehr schnell nahezu beliebige Worte lesen. Das ermöglicht einen ganz anderen Leseerfolg als das klassische „Mimi am Haus“ oder „Mama am Zaun“ nach dem viele von uns noch Lesen gelernt haben. Die Hamburger Methode ist damit vor allem eine LESE-lern-Methode, nicht primär eine Schreiblernmethode. Der motivierende Erfolg, ziemlich schnell sinnvolle Sätze und sogar kleine Kinderbücher lesen zu können und nicht nur relativ sinnfreie Wortkombinationen, hat aber einen Preis. Damit man die Anlauttabelle verwenden kann, muss man relativ gutes Hochdeutsch sprechen. Sächsische Kinder haben es mit der Anlauttabelle schwer, ein G von einem K zu unterscheiden. Auch Kinder mit Migrationshintergrund die erst Deutsch lernen oder die in der Sprachentwicklung hinterherhinken haben mit dieser Methode einen klaren Nachteil. Das hat auch die Studie in NRW wieder bestätigt und das verwundert auch niemanden.

Aber an vielen Brandenburger Schulen ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund geringer als in NRW.

Eben. Auch sind die Dialekte hierzulande nicht so ausgeprägt, dass sie dieser Methode prinzipiell im Wege stehen würden. Allerdings ist auch hier das Sprachstandsniveau bei vielen Schulkindern längst nicht da, wo wir es uns wünschen. Hier liegt eine zentrale Aufgabe des Kindergartens und eigentlich haben wir in Brandenburg ideale Voraussetzungen, weil wir eine viel höheren Anteil der Kinder haben, die in den Kindergarten gehen, als die westdeutschen Bundesländer.

Woran liegt es, dass wir so wenig daraus machen?

Gut ausgebildete Kindergärtner und Tageseltern, die mit einer reichen Sprache Lust auf sprachliche Verständigung machen – wir unterschätzen viel zu sehr, wie wichtig das ist.

Das heißt wenn die Grundlagen geschaffen sind, können Kinder auch mit dem „Lesen nach Schreiben“ zum Bildungserfolg kommen?

Es ist wichtig, dass gut ausgebildete Lehrer die Chancen und die Risiken jeder ihrer Methoden kennen und sie genau da einsetzen, wo sie sinnvoll sind, zum Beispiel „Lesen durch Schreiben“, um das Leseerfolgserlebnis zu wecken und zu steigern, die Fibel-Methode da, wo es darum geht, richtig schreiben zu lernen. Einen Methodenfetischismus, nach dem eine einzige Methode die allein heilsbringende ist, vertritt in der wissenschaftlichen Pädagogik kaum noch jemand. Deshalb setzt auch kaum ein Lehrer nur auf eine einzige Methode. Die Frage ist eher, wie man Fehler korrigiert. Sagt die Lehrerin einfach: „Das ist falsch!“ erleben nicht nur Kinder das häufig als deprimierend. Wenn die Lehrerin dagegen sagen würde: „Das ist ein schöner Brief, den Du Deinem Vater da zum Vatertag geschrieben hast. In der Buchschrift wird Fater übrigens mit Vogel-V geschrieben“, dann klingt das viel weniger abwertend.

Gibt es denn Belege dafür, dass Kinder durch das freie Schreiben ohne Regeln mehr Kreativität entwickeln?

Dass es mehr Spaß macht, die spannende und lustige Geschichte von Kater Konstantin zu lesen, als sinnfreie Worte aneinanderzureihen, das ist nicht schwer einzusehen. Und dass man Lesen vor allem durch Lesen lernt, ist eine Binsenweisheit, die auch durch Studien bestätigt wird. Gerade Kinder, die zu Hause kaum in Kontakt mit Büchern kommen sollen die Chance bekommen, die Freude am Lesen für sich zu entdecken und so in der Bücherei andere Welten zu entdecken. Und ja, so wird auch Kreativität und Phantasie gefördert. Richtigschreiben ist wichtig, aber es ist längst nicht alles, was die Schule den heranwachsenden Menschen nahebringen sollte.

Halten Sie es für richtig, dass nun generell mehr Wert auf Orthographie gelegt werden soll, auch in anderen Fächern?

Auch an der Uni wundere ich mich immer wieder über Arbeiten, die mit einer katastrophalen Orthografie und Grammatik abgegeben werden. Zumindest exemplarisch korrigiere ich das auch. Dennoch halte ich es für falsch, dies auf die Fachnote anzurechnen. Das gilt auch für die Schule. Wenn die Rechtschreibung auch in allen anderen Fächern relevant für die Notengebung würde, haben Kinder, denen das richtige Schreiben schwerer fällt, in allen anderen Fächern auch Punktabzüge. Das verhindert Erfolgserlebnisse, die wichtig für das Lernen sind.

Brandenburg kann den Lehrerbedarf ohne Seiteneinsteiger längst nicht mehr decken. Sind solche Quereinsteiger überhaupt kompetent genug zu entscheiden, welche Methode sie anwenden wollen?

Da sprechen Sie das eigentliche Problem an. Wir haben nicht nur aber auch in Brandenburg leider die Situation, dass wir schon seit Jahren zu wenig Lehrer ausgebildet und eingestellt haben. Das rächt sich nun. Der Ausweg, immer mehr Seiteneinsteiger einzustellen, ist ein Irrweg. In der Medizin kommt man ja auch noch nicht auf die Idee, beim Mangel an Chirurgen Schlachter einzustellen, weil die ja auch gelernt haben, wie man Fleisch aufschneidet. Dass man angesichts dieser hausgemachten Katastrophe nun dazu übergeht, die Methoden zu verordnen, nach denen unterrichtet werden soll, ist ein Rückfall in die pädagogische Situation des 19. Jahrhunderts und spricht jeder professionellen Pädagogik Hohn..

Aber Eltern, die einen anderen Unterricht für ihre Kinder wünschen, können doch eine Schule in freier Trägerschaft wählen.

Wo es solche Schulen gibt und wo Eltern über die nötigen Mittel verfügen oder die Schulen so finanziert sind, dass sie sich auch finanzschwache Eltern leisten können, steht ihnen dieser Weg selbstverständlich frei. Allerdings stehen auch die Schulen in freier Trägerschaft vor dem gleichen Problem, dass sie um die wenigen gut ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer werben. Da sie häufig geringere Gehälter zahlen, auch deshalb, weil sie nur zu einem Teil refinanziert werden, haben sie es in dem Punkt oft schwerer.

Henning Schluß, 49, ist Professor für Empirische Bildungsforschung und Bildungstheorie an der Universität Wien. Er lebt in Oranienburg und verfolgt die Bildungspolitik in Brandenburg.

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