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Hier tickten die Uhren schon damals anders. Die Gemeinde der St. Nikolai-Kirche in Jüterbog nahm mit der Reformation zwar den neuen Protestantismus an, hielt aber an mystischen Bräuchen und katholischer Frömmigkeit fest.

© Rainer Weisflog/imago

Brandenburg: Im Garten der Reformation

Jüterbogs evangelische Nikolaikirche erklärt mit Mysterienspielen die Reformation

Jüterbog - Die Tetzel-Kapelle liegt im Hinterhof. Der ebenerdige Kuppelraum grenzt an den Hauptraum der St. Hedwigskirche, einer katholischen Gemeinde im brandenburgischen Jüterbog. Der Bau aus dem 12. Jahrhundert gilt als frühestes Zeugnis christlichen Glaubens im Süden des heutigen Brandenburgs. Berühmt geworden ist die Kapelle, weil der Ablass-Prediger Johann Tetzel hier im Frühjahr 1517 seine Ablassbriefe verkaufte – und damit der Überlieferung nach den Anstoß für Martin Luthers Anschlag der 95 Thesen am 31. Oktober 1517 im benachbarten Wittenberg gab.

Wie es die Geschichte lehrt, war Tetzel am Ende weniger erfolgreich als Luther. Er starb 1519 in Leipzig an der Pest. Zuvor hatte ihn der Papst noch mit dem Doktor-Titel geehrt. Die Reformation aber setzte dem Katholizismus zu, bis 1852 war das katholische Leben in Jüterbog „vollkommen erloschen“, wie Pater Anselm Schadow aus der in Sütterlin verfassten Stadtchronik zitiert.

Von Tetzel gibt es aber auch in der evangelischen Nikolaikirche mit ihren weit sichtbaren Doppeltürmen historisch Wertvolles: Den Tetzelkasten, in dem der Ablass-Händler seine Einnahmen sicherte, die zur Hälfte nach Rom gingen. Ausgerechnet dort, wo der Ablasshandel zuerst aus der Kirchenpraxis flog, tritt Pfarrer Bernhard Gutsche heute für ein differenziertes Bild der vor- und nachreformatorischen Kirchenpraktiken ein.

Der evangelische Theologe gilt in der Region als wandelndes Geschichtsbuch. Seit zehn Jahren ist er Pfarrer in St. Nikolai. Mit Enthusiasmus und Konzentration hat er sich durch die Kirchenannalen gewühlt. „Wenn man hier ankommt, muss man sich mit der Geschichte auseinandersetzen“, sagt er. Und was er fand, dokumentiert, was Brandenburg im Reformationsjubiläum Reisenden Richtung Wittenberg zu bieten hat.

Denn die Gemeinde in Jüterbog nahm zwar den neuen Protestantismus an, hielt aber parallel an mystischen Bräuchen und vorreformatorischer Frömmigkeit fest. Nur einen Katzensprung von Wittenberg entfernt vollzog sich die Reformation in Jüterbog nur in kleinen Schritten, paarten sich Katholizismus und neue Lehre in Bildern und Kirchenpraktiken. Davon zeugt noch heute der Kirchenbau.

Marienbilder zieren die Wände am Hauptschiff, im Gewölbe steht unter einer bunt bemalten Decke der Tetzelkasten und ein Cranach-Altar. Oft fragten Besucher zuerst, ob die Kirche evangelisch oder katholisch sei, sagt Gutsche. Um das zu erklären, bereitet Jüterbog für 2017 eine Ausstellung zur Frömmigkeitskultur in den 100 Jahren vor und nach der Reformation in Stadt und Region vor. Im Zentrum soll die Auseinandersetzung mit Bedeutung und Auswirkungen von Tetzels Ablasshandel stehen. Das Besondere: Zunächst vertrugen sich laut Gutsche beide Kirchpraktiken ungestört nebeneinander.

Das belegt etwa das Spektakel um den „Himmelfahrt-Jesus“. Die Figur saß zunächst auf dem Altar, wurde dann an Karfreitag in einen kleinen Sarg hinter dem Altar gebettet, zu Himmelfahrt zurück in die Kirche getragen und an einem Seil unters Gewölbe gezogen. Gleichzeitig stürzte der Teufel in Form einer Strohpuppe herab, auf den die Buben Jüterbogs mit Ruten draufschlagen durften. Zum Schluss sei der Regen des himmlischen Segens in Form von Kandis, Oblaten, Rosinen und Nüssen auf die Gläubigen geprasselt.

„Eine unglaubliche, für die ganze Gruppe inszenierte Schau“, sagt Gutsche. Verboten wurde sie erst ab 1540. Reformation – das ist für Gutsche eben ein längerer Prozess, der seinen Anfang in einer „unglaublich vitalen Frömmigkeitswelt“ nahm. „Die Welt am Vorabend der Reformation ist wie ein tropischer Garten“, erklärt er, „der völlig bunt blüht, aber auch völlig überwuchert ist.“ Wo genau die Beete liegen, die Grenzen, das sei nicht mehr klar gewesen, „aber es ist irre schön in dem Garten“.

Mit der Reformation kamen die Gärtner, die zurückschnitten, um wieder ernten zu können. „Es gab schon immer solche Reduktionsprozesse“, sagt der Theologe, aber mit Luther und noch mehr durch andere Reformatoren seien dies sehr harte Rückschnitte gewesen.

Heute stünden wir „in einer Steppenlandschaft“ und versuchten, die Reformation zu erklären. „Das macht die Sache so schwierig“, betont er und will es den Besuchern deshalb etwas erleichtern. 2011 zog er „probeweise“ zu Himmelfahrt den Jesus wieder an die Decke. Statt Süßigkeiten regnete es Rosenblätter und den Teufel warf er nicht mehr herunter, sondern projizierte ihn als Schatten auf den Steinboden. Seither ist es der Himmelfahrtsgottesdienst der ganzen Region, so Gutsche.

Und weil das Spiel so erfolgreich ist, castet er gerade für das Reformationsjubiläum Freiwillige für ein Freiluft-Mysterienspiel, auch ein Brauch aus vorreformatorischer Zeit. Gesucht werden Fürsten, Bettler, Bischöfe, Handwerker und andere Rollen aus dem Spätmittelalter. Die Proben sollen im Juli beginnen, das Stück im nächsten Jahr mehrfach aufgeführt werden. Christina Denz

www.kirche-jueterbog.com

Christina Denz

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