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Brandenburg: „Ich frage mich: Was wäre wenn?“ Wie Berliner den Abend im Stadion erlebten

Berlin - „Was wäre, wenn ich an diesem Abend in einem der Pariser Cafés gesessen hätte?“, sagt Philipp.

Von Sandra Dassler

Berlin - „Was wäre, wenn ich an diesem Abend in einem der Pariser Cafés gesessen hätte?“, sagt Philipp. „Wäre ich erschossen worden? Hätte ich erschossene Menschen sehen müssen? Hätte ich das je verkraftet? Ich frage mich ständig: Was wäre wenn?“

Dass Philipp am vergangenen Freitagabend nicht in die Stadt, sondern ins Pariser Stadion Stade de France ging, lag am Deutsch-Französischen Jugendwerk. Das hatte den Teilnehmern des 10. Treffens des Netzwerks „Diversität und Partizipation“ die Tickets geschenkt. Mehrere Berliner waren zu Workshops nach Paris gereist, sie fuhren gemeinsam ins Stadion. „Mir ist da nichts Besonderes aufgefallen“, erzählt Boris Bocheinski, der Leiter einer Gruppe. Philipp hingegen, der öfter bei Spielen von Hertha ist, wunderte sich über die, wie er sagt, sehr laxen Kontrollen. „Vor allem nach der Bombendrohung gegen das Hotel der deutschen Nationalelf hat mich das erstaunt“, sagt er. „Da wird im Olympiastadion viel schärfer kontrolliert.“

Als die erste Detonation das Stadion erschütterte, glaubten die Berliner noch, es sei ein besonders großer Böller gezündet worden. Doch die Druckwelle, die deutlich zu spüren war, das Heulen der Sirenen und kurz darauf die zweite Explosion ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um Bomben handelte. „Dann kamen auch erste Meldungen über Twitter“, erzählt Philipp „und später sahen wir auf Bildschirmen an den Bistros, dass es weitere Anschläge in Paris gab“.

Die Gruppe beriet, was sie tun sollte, und entschied sich dafür, das Stadion zunächst nicht zu verlassen, erzählt Bocheinski. „Plötzlich soll ein dumpfer Knall wie ein Schuss zu hören gewesen sein, dann strömten viele, die auf dem Weg zum Ausgang und sogar schon draußen waren, wieder zurück. Das löste fast eine Panik aus.“

Auch für Philipp war das der schlimmste Moment: „Viele Mädchen schrien, und auch Männer wirkten völlig hilflos. Das war kein schöner Anblick.“ Der 18-Jährige hatte in der Zwischenzeit seine Schwester und Mutter in Berlin angerufen und ihnen gesagt, dass bei ihm alles in Ordnung sei. Dass er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, wie es weitergehen würde, verschwieg er lieber.

Erst lange nach Spielende verließ die Gruppe gemeinsam das Stadion – und blieb noch die ganze Nacht zusammen, sagt Boris Bocheinski: „Wir konnten uns aufeinander verlassen, das war bei alldem Schlimmen eine gute Erfahrung.“

Philipp, der am Montag wieder zur Schule ging, schreckt noch zusammen, wenn er auf der Straße Schreie oder verdächtige Geräusche hört. Er kann aber auch sein normales Leben und seine Familie mehr schätzen, sagt er. „Man weiß, was wirklich wichtig ist.“ Ihn störe, dass einige die Anschläge in Zusammenhang mit Flüchtlingen bringen. „Vor dem, was wir am Freitag erleben mussten, fliehen sie doch“, sagt er. „Es ist eine Doppelmoral, jetzt nur der in Paris Getöteten zu gedenken, wo so etwas in Kabul oder Beirut ständig geschieht. Dass ich in Deutschland geboren wurde, ist genauso ein Zufall, wie dass ich Freitag im Stadion war. Und nicht im Café.“ Sandra Dassler

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