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Obstkultour im Fischerkiez. Claudia Fehrenberg und Christian Eckhoff vor ihrer Herberge in der Alten Schule Glindow.

© Tsp

Brandenburg: Hier findet jeder seine Bucht

Die untere Havel ist ein Unikum, Seen reihen sich kurvenreich aneinander. Am Ufer liegt Preußens Arkadien – und es gibt sogar Alpen

Still fließt sie dahin, unaufgeregt, fast ein wenig melancholisch und betörend schön – das ist die Havel. Götz Lemberg hat sie mit seiner Kamera porträtiert, er ist dem Fluss mit Umsicht gefolgt wie kein anderer Künstler zuvor, intensiv und ausdauernd, bis ihm die untere Havel ihren Charakter preisgab.

Dafür nahm der 55-jährige Berliner jede Menge Stress in Kauf. Drei Mal charterte er in den vergangenen Jahren ein Hausboot und schipperte jeweils zehn Tage lang die Lebensader des Havellandes hinunter, von Potsdam bis zur Mündung in die Elbe. Am Steuer stand ein Skipper, denn Lemberg hatte auf Deck ununterbrochen zu tun. Im Abstand von je einem Kilometer fotografierte er systematisch den Fluss vor dessen Kulisse und verdichtete später seine Bilder zu einem Havel-Kaleidoskop: Wasser, Natur und Kultur unter dem weiten Himmel der Mark.

Das Ergebnis seines ungewöhnlichen Kunstprojektes zeigte Götz Lemberg in Ausstellungen entlang des Flusses. Auch einen Bildband hat er herausgebracht.

Neu ist die starke Anziehungskraft des langsam strömenden Flusses auf Künstler allerdings nicht. Die Verzauberung hat Tradition. Schon seit dem 19. Jahrhundert ließen sich Maler von der Havel inspirieren. Zuallererst von ihrer eigenwilligen Erscheinung: Sie sieht ja nicht aus wie ein anständiger Fluss, sie ist eine kurvenreich aneinandergereihte Ansammlung von Buchten und Seen.

Hinzu kommt ihr historisches Flair. Seit Friedrich dem Großen waren alle seine Nachfolger bemüht, ihren Sehnsuchtsort, das Preußische Arkadien mit seinem Fixpunkt Sanssouci, von Potsdam ins Umland auszudehnen – vor allem entlang der Havelauen. Schlösser, Kirchen und Herrenhäuser wurden um- oder neugebaut und Parks angelegt, geprägt vom Hauch der Antike, südländischer Architektur sowie dem Ideal englischer Landschaftsgärten. Alles passte harmonisch zusammen, bis zu den Wein- und Obstgärten auf den Hügeln am Ufer. Ein bisschen Toskana und britische Parkromantik in der Mark. Welcher Maler konnte da widerstehen?

Etwa ab 1878 entstand im Fischerdorf Ferch die Havelländische Künstlerkolonie. Vor allem Impressionisten wie Karl Hagemeister brachten in der späten Kaiserzeit und in den zwanziger Jahren das besondere Licht am Fluss, das Spiel seiner Wellen und der Wolken auf die Leinwand. Sie porträtierten Menschen, Orte und quirlige Strand- und Kaffeehausszenen, schließlich war das Havelland schon damals bei Berlinern und Potsdamern als Ausflugsziel höchst beliebt. „Wir fahr’n nach Potsdam, nach Werder, nach Ferch“, sang die Kabarettistin Claire Waldoff. Obwohl es zu ihrer Zeit im Dunstkreis von Werder und Glindow, Paretz und Deetz noch viel Industrie gab, besonders Ziegeleien mit dampfenden Schornsteinen.

Viele Bilder der sogenannten Havelland-Maler kann man heute im Museum in Ferch bewundern. Ein Kunstgenuss mit Überraschungseffekt. Denn allzu sehr hat sich das Landschaftsbild seither gar nicht gewandelt. Die Fabriken sind zwar fast verschwunden, doch die Kiefernwälder duften noch wie früher und wacker gehalten haben sich die Anhöhen rechts und links der Havel, die hier „Berge“ oder sogar „Glindower Alpen heißen, obwohl sie kaum hundert Meter hoch sind.

Auch die flachen, sandigen Ufer und breiten Schilfgürtel gibt es noch. Preußens Arkadien ist als Unesco-Kulturlandschaft längst gut geschützt. Und der Schwielowsee, den Albert Einstein sein „kleines Paradies“ nannte, wenn er von seinem Sommerhaus oberhalb von Caputh herabblickte, liegt noch genau so „behaglich und sonnig“ da, wie ihn Theodor Fontane einst schilderte. „Der Schwielow“, schreibt er, „hat die Gutmütigkeit aller breit angelegten Naturen.“

Kurz, die untere Havel ist heutzutage der klassische Sommerfrische-Fluss, ideal für Radler und Wanderer, für Schwimmer und Bootsfahrer. Man begegnet nur wenigen Binnenfrachtern. Im Hochsommer geht es auf den Fluten zwischen Potsdam und Brandenburg stattdessen kunterbunt zu, Haus- und Sportboote, Paddler, Flöße und Surfer sind unterwegs. Auf den weiteren Kilometern bis zur Elbe hinunter wird es dann einsamer, die Havel mäandert im schmaleren Bett, bildet gar Labyrinthe zwischen Auwäldern, findet zurück zur Urform eines Flusses im „Biosphärenreservat Havel/Elbe“.

Das alles freut die Touristiker in Potsdam. 2010 wurden im Havelland rund 817 000 Gästeübernachtungen registriert, 2017 waren es schon knapp über eine Million. Ein Trend, den auch Claudia Fehrenberg und Christian Eckhoff in ihrem Gästehaus „Obstkultour“ in der Alten Grundschule im Glindower Fischerkiez erleben. Er stammt aus Hamburg, ist Forst- und Gartenexperte, sie ist Potsdamerin und Veterinärin. 2008 haben beide ihr Leben umgekrempelt. Sie verguckten sich in Glindow, ein Ortsteil von Werder, und dort in die seit Jahrzehnten geschlossene Grundschule. Sie erwarben das Haus, restaurierten es liebevoll, zogen ein und eröffneten 2009 in dem alten Schulhaus eine Herberge. Das Ganze erinnert ein wenig an Astrid Lindgrens Bullerbü.

Links geht’s zur Tierartpraxis von Dr. Fehrenberg in einstigen Klassenräumen, rechts ist die Terrasse unter Sonnenschirmen. Am Haupteingang hängt ein Plakat der „Klangkirschen“, eine Einladung des Glindower Frauenchors. Warum Klangkirschen? Claudia Fehrenberg kann’s erklären, sie singt selbst mit: „Weil Glindow, ebenso wie ganz Werder, für seine Kirschen- und Obstplantagen berühmt ist.“ Zum Werderaner Baumblütenfest pilgern Berliner zu Tausenden – seit mehr als 140 Jahren. Doch ein geschickter Coup sei vor einigen Jahren auch der Bau des „Panoramaweges Werderobst“ gewesen. Der führt über die Anhöhen, quer durch Streuobstwiesen und Weinberge und ist eine beliebte Rad- und Wanderstrecke.

Fehrenberg nimmt auch als Stadtverordneter an Werders Entwicklung aktiv teil, sie freut sich, „dass mehr und mehr kreative Leute in die Region ziehen“, beispielsweise die „Keramik&KulturGUT“- Initiative Glindow oder die „Neue Ziegel-Manufaktur“ am Märkischen Ziegeleimuseum. Sie beleben alte Handwerkskünste, die einst an der Havel zu finden waren. Außerdem spielt Werder bald einen weiteren Trumpf aus: Im kommenden Jahr ist der Spatenstich für die „Blütentherme“ am Havelufer.

Es geht voran im Havelland. Auch Paretz machte einen Sprung nach vorn, wurde mitsamt seinem Königin-Luise- Schloss als Musterdorf preußischer Landbaukunst saniert. Und Brandenburg an der Havel, Geburtsstadt von Vicco von Bülow, hat sich zum kulturell spannenden, lebendigen Ausflugsziel entwickelt. Als Götz Lemberg auf seinem Hausboot die Stadt durchquerte, fotografierte er auch die St. Johanniskirche am Ufer. Was sich neben der Kirche in Blumenbeeten versteckt, blieb der Kamera verborgen: Dort heben Loriots „Waldmöpse“ als lebensgroße Bronzefiguren ihr Bein.

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