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Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke in der Sondersitzung des Landtages.

© Soeren Stache/dpa-Zentralbild

Gedenkstunde zum Tag der Befreiung: Psychosoziale Spuren

In einer Gedenkstunde des Brandenburger Landtags wurden in einer Sondersitzung neue Strategien der Erinnerungskultur diskutiert. Präsidentin Ulrike Liedtke (SPD) gab Denkanstöße.

Potsdam - Brandenburgs Parlamentspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) hält neue Strategien in der Erinnerungskultur für notwendig. Das sagte Liedke am Donnerstag in der Gedenkstunde des Brandenburger Landtages aus Anlass des 75. Jahrestages der Befreiung und des Kriegsendes. „Es ist Zeit für ein Forum Erinnerungskultur, das Geschichte in ihren Schichten untersucht, vielschichtig, mit der Entwicklung neuer Strategien von Gedenken und Vergegenwärtigung“, sagte Liedtke in einer berührenden wie tiefgründigen Rede, in der sie Denkanstöße gab. In Brandenburg, „wo uns die Geschichtsorte wie Seelower Höhen, Halbe, Kienitz, Sachsenhausen, Ravensbrück, der Belower Wald direkt vor Augen liegen“, sagte Liedtke, „kommt dialogischer Bildungsarbeit eine besondere Verantwortung zu.“ Nötig sei eine integrative und europäische friedensfördernde Erinnerungskultur, „die alle einbezieht und auch heutige Kriegsorte, Flucht- und Gewalterfahrung berücksichtigt.“ 

Was 1945 mit der Kapitulation Deutschlands endete, ist nach Worten Liedtkes nicht nur  Vergangenheit. „Wir brauchen eine Sprache für die Erfahrungen der Nachkommen von Opfern und Tätern, um in immer tiefere Schichten der Erinnerung vorzudringen“. In Schichten, so Liedtke, „in denen der Krieg, das Leid, die Verluste und das menschenverachtende System der Nationalsozialisten psychosoziale Spuren bei heutigen Generationen hinterlassen haben.“ 

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Das seien „Spuren, die weiterwirken in die Zukunft, mit denen wir leben und uns auseinandersetzen müssen.“ Nach ihren Worten sind Spätfolgen von Faschismus und Krieg auch in Polen, Russland, Frankreich, Großbritannien, in Europa, den USA und bei vielen Menschen in Israel immer noch da. „Diese Kriegsfolgen sind verschieden“, sagte sie. „Wir müssen lernen, diese Unterschiedlichkeit unserer Erfahrungen anzuerkennen, ihnen Raum geben und uns noch stärker als bisher darüber austauschen.“ Die Aufarbeitung der Vergangenheit sei „für ein tiefgründiges und differenziertes Verständnis alarmierender Tendenzen in unserer Gegenwart fundamental“. 

Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) spricht in der Sondersitzung des Landtages. 
Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) spricht in der Sondersitzung des Landtages. 

© Soeren Stache/dpa-Zentralbild

Deutschland habe eine Verantwortung

Die Gedenkstunde im Landtag hatte eine besondere Bedeutung, da die Feierlichkeiten anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung, etwa in den Brandenburger Gedenkstätten, wegen der Corona-Pandemie nur eingeschränkt stattfinden konnten. „Vor einem drei Viertel Jahrhundert war ganz Brandenburg ein großes Schlachtfeld“, erinnerte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Der Krieg, den Deutschland entfacht hatte, sei damals mit seinen Schrecken nach Deutschland zurückgekehrt. „Wir stehen in der Verantwortung, was Deutsche, auch aus unseren Familien, anderen angetan haben“ Er prangerte rechtsextreme Tendenzen an und zitierte Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch. Wir müssen den Anfängen wehren. Das sind wir den Opfern schuldig.“

Das Thema bestimmte nahtlos die reguläre Landtagssitzung, da gleich danach die „Gedenk-, Bildungs- und Erinnerungsarbeit in Brandenburg“ auf der Tagesordnung stand. Auf Antrag der Linken, die eine große Anfrage an die Landesregierung gestellt hatten. „Die Verbrechen der Nazis begannen nicht in Auschwitz, sie begannen mit Diskriminierungen und dem sukzessiven Ausschluss aus der Gesellschaft“, warnte die Linke-Abgeordnete Isabel Vandré. Sie warf der Landesregierung vor, die kleinen Gedenkorte zu vernachlässigen. Es sei schockierend, dass es nicht einmal eine „Erhebung über zivilgesellschaftliche Initiativen an den Orten ehemaliger KZ-Außenlager oder Stationen der Todesmärsche“ gebe.

Das ließ Kulturministerin Manja Schüle (SPD) nicht auf sich sitzen. „Meine Wertschätzung drückt sich nicht in statistischen Erhebungen aus.“ Schüle verwies darauf, dass Erinnerungsarbeit anders geleistet werden muss, da es bald keine Zeitzeugen mehr gebe. „Erstmals in der Geschichte der Nachkriegszeit werden wir die Last der Erinnerung alleine tragen.“ Der Begriff des „Tages der Befreiung“ erwecke bisweilen den Eindruck, so Schüle, als ob wir von Besatzern befreit worden seien: „Die Nazis kamen nicht über uns. Wir waren es.“ Nach Worten von Grünen-Fraktionschefin Petra Budke haben die Erinnerungsorte im Land enorme Bedeutung: Wer Gedenkstätten besuche, „wird sich nicht so leicht rechtsextremen Gruppen anschließen oder die Shoa leugnen.“ 

Isabelle Vandre (Die Linke) spricht während der Sondersitzung des Landtages zur Anfrage ihrer Fraktion zur Bildungs- und Erinnerungsarbeit im 75. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 
Isabelle Vandre (Die Linke) spricht während der Sondersitzung des Landtages zur Anfrage ihrer Fraktion zur Bildungs- und Erinnerungsarbeit im 75. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 

© Soeren Stache/dpa-Zentralbild

„Es gibt Erbschaften, die man nicht ausschlagen kann."

Der AfD-Abgeordnete Christoph Berndt nannte die Debatten einseitig, zitierte ausführlich aus der berühmten Weizsäcker-Rede zum 8. Mai und griff vor allem die Linken an, denen er den „Geist des vormundschaftlichen Staates“ vorwarf. „Hüten Sie sich vor moralischer Überlegenheit! Sie ist Gift für das Herz. Und man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Solche Sätze eines AfD-Politikers fanden viele , wie an Mimik, Gestik und Zwischenrufen erkennbar war, dreist. 

„Es gibt Erbschaften, die man nicht ausschlagen kann. So ist das mit der deutschen Geschichte“, mahnte der Abgeordnete Matthias Stefke (Freien Wähler). Vize-Landtagspräsidentin Barbara Richstein, die für die CDU sprach, sagte: „Der 8. Mai ist untrennbar mit dem 30. Januar 1933 verknüpft“. Auch die Ursachen für Flucht und Vertreibung lägen „am Anfang des Krieges, nicht am Ende.“ Der 8. Mai zeige aber auch, betonte Richstein, und das sei ein Unterschied zur Position der Linken, „dass wir uns mit der Geschichte des geteilten Deutschland befassen müssen.“   

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