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Gedenken an Elias und Mohamed: Trauer auch im Heimatort von Silvio S.

Die erste Schockstarre in Kaltenborn ist überwunden, Trauer und Entsetzen bleiben: Im Heimatort von Silvio S. fragen sich viele, wieso sie nichts bemerkt haben. Eine Pfarrerin sucht nach Antworten.

Von Sandra Dassler

Kaltenborn - „Bewahre uns Gott, behüte uns Gott.“ Zaghaft intonieren gut zwei Dutzend Menschen in der kleinen schlichten Kirche dieses Lied. Mit Unterstützung der Orgel wird der Gesang nach und nach kräftiger. Hinter den grauen, hölzernen Bankreihen, in denen jeweils zwei bis drei Menschen Platz finden, brennt eine Kerze. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ steht darauf.

Kein einfacher Vorsatz, wenn man in Kaltenborn wohnt, jenem kleinen Ort im Fläming, der in den vergangenen Tagen im Fokus der Medien stand. Hier lebte Silvio S., der gestanden hat, zwei Kinder getötet zu haben – Mohamed und Elias.

"Mörder" am Kaltenborner Ortseingangsschild

Die monströse Tat hat viele Menschen in Trauer und Entsetzen versetzt. Oder in ohnmächtige Wut. „Mörder“ hat jemand am Wochenende auf das Ortseingangsschild von Kaltenborn geschrieben. Ein Einwohner hat den Schriftzug wieder weggewischt, so gut es irgendwie ging.

Der Schmerz und die vielen Fragen lassen sich nicht wegwischen, sagt Ines Fürstenau-Ellerbrock. Irgendwie hat sie es geschafft, an diesem Sonntag in der kleinen Kaltenborner Kirche zu predigen. Vor zehn Tagen erschien ihr das noch unmöglich: „Ich konnte nicht sprechen, nicht denken“, sagt sie. „Das Einzige, was ich tun wollte, war, in aller Stille, eine Kerze anzuzünden.“

Pfarrerin: Es traf mich eiskalt

Das war am 29. Oktober – einem Tag, den die Pfarrerin der Gemeinde Niedergörsdorf, zu der auch Kaltenborn gehört, am liebsten aus ihrem Kalender streichen würde. „Vormittags erhielt ich die Nachricht, dass die Mutter eines meiner Konfirmanden gestorben ist“, erzählt sie. „Ich hatte gerade einen Brief an die Familie geschrieben, da kam ein Anruf aus der Gemeinde. Ob ich nicht mal nach Kaltenborn fahren könne, ich sei doch Pfarrerin und im Notfallseelsorgeteam. Ich hatte noch keine Nachrichten hören können, deshalb traf es mich eiskalt, dass der mutmaßliche Mörder von Mohamed aus Kaltenborn stammt.“

Obwohl die Familie von Silvio S. nicht zur Kirchengemeinde gehört, fuhr Ines Fürstenau-Ellerbrock sofort los. Doch die Eltern von Silvio S. waren schon von der Polizei weggebracht worden und wurden bereits seelsorgerisch betreut. „Ich war ehrlich gesagt froh, dass auch ich da schnell wieder weg konnte“, sagt die Pfarrerin: „Da waren Dutzende Kameras, es wimmelte von Journalisten und ich hätte wirklich nicht gewusst, was ich denen in diesem Moment hätte sagen sollen.“

Zwei, drei Tage habe eine regelrechte Schockstarre über der Gemeinde gelegen, erzählt die Pfarrerin. Die Nachricht, dass Silvio S. auch die Tötung von Elias gestanden hatte, habe die Unerträglichkeit des Geschehens noch gesteigert.

"Es ist so ein liebes Dorf mit so freundlichen Menschen"

Sie habe anfangs nur an die Eltern von Mohamed und Elias denken können, sagt Ines Fürstenau-Ellerbrock: „Sehr schnell kam dann aber auch der Gedanke, was die Eltern von Silvio S. durchmachen – auch, weil ja die Mutter selbst ihren eigenen Sohn angezeigt hat. Und immer wieder habe ich mich gefragt, wie mein kleines Kaltenborn das aushält. Es ist ein so liebes Dorf mit so freundlichen lebensfrohen Menschen.“

Die geborene Berlinerin ist vor fünf Jahren nach Niedergörsdorf gekommen und hat sich hier sofort wie zu Hause gefühlt. Als Gemeindepfarrerin hält sie Gottesdienste in fünf Kirchen, kümmert sich um Konfirmanden und seit September auch noch um 55 Flüchtlinge im Ortsteil Altes Lager. Kaltenborn ist ihr sehr ans Herz gewachsen, sagt sie. Die 80 Einwohner würden viel gemeinsam unternehmen, es gebe oft Feste draußen unter der Linde am neuen Brunnen und obwohl die meisten Atheisten seien, hätten sie für die Sanierung der alten Orgel gespendet und packten auch mit an, um den Fußboden „ihrer“ Kirche zu erneuern.

Briefe an die Eltern von Mohamed und Elias

Natürlich fragen sich viele, wieso sie nichts bemerkt haben, sagt die Pfarrerin in ihrer Predigt. Aber auch in einem kleinen Dorf sei man nicht davor gefeit, dass einem Dinge entgehen, wenn es jemand darauf anlegt, sie zu verbergen. Und dennoch, fragt Ines Fürstenau-Ellerbrock: „Wir sind doch nicht so. Wie kann dieser eine so sein?“ Eine Antwort darauf hat derzeit niemand in Kaltenborn. Und doch haben die Einwohner in den letzten Tagen ihre Schockstarre ein wenig überwunden. Haben Briefe an die Eltern von Mohamed und Elias geschrieben, in denen steht, dass ihnen unendlich leid tut, was geschehen ist. Der Brief an Mohameds Eltern ist zugestellt, die Adresse von Elias’ Familie haben sie noch nicht herausgefunden.

Neulich seien Fremde mit einem Auto durchgefahren und hätten „Ihr Mörder“ aus dem Fenster geschrien, erzählt eine Frau nach dem Gottesdienst. Da stehen sie noch eine Weile beieinander, der Generalsuperintendent, die Pfarrerin, der Ortsvorsteher und die Gemeindemitglieder. Ein Ehepaar, das neben der Kirche wohnt, hat Kaffee gekocht und ihn in die Kirche gebracht.

Hoffnung auf Frieden - irgendwann

„Das hat uns gut getan, Frau Pfarrerin“, sagt eine ältere Dame zu Ines Fürstenau-Ellerbrock. Die nickt nur erschöpft. Sie hat lange an dieser Predigt gesessen, in der sie auch viel über Hoffnung sprach. Hoffnung darauf, dass sie irgendwann wieder Frieden finden können – die Familien von Elias und Mohamed, die Angehörigen von Silvio S. und auch das kleine Kaltenborn. Auf die bohrende Frage „Wo war da Gott?“ kann aber auch die Pfarrerin keine Antwort geben.  

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