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Gastkommentar: „Revolutionäre Hoffnung hatte mich ergriffen“

Der frühere Studentenpfarrer Konrad Elmer-Herzig erinnert sich an die erste frei genehmigte Demonstration der DDR am 4. November 1989 in Ost-Berlin.

Potsdam - In der Nacht zum 4. November konnte ich kaum schlafen. Als Gründungsmitglied der ostdeutschen Sozialdemokratischen Partei (SDP) war ich in letzter Minute auf die Rednerliste der ersten freien genehmigten Demonstration in der DDR geraten. Revolutionäre Hoffnung hatte mich ergriffen. Es war die gleiche Stimmung, die ich aus meiner Jugend kannte. In unserem Studentenwohnheim in Halle hörten wir im Frühjahr 1968 heimlich Radio Prag. Wir staunten, wie offen dort über die heikelsten politischen Themen diskutiert wurde. Kaum war das Semester zu Ende, trampten wir ins Nachbarland und unterhielten uns im U Flekú mit tschechischen Studenten über die Demokratisierung des Sozialismus – bis russische Panzer unsere revolutionären Hoffnungen niederwalzten.

Darauf wollte ich in meiner Rede Bezug nehmen. Hatte ich danach doch zwei Jahrzehnte auf einen „Prager Frühling“ in Moskau gewartet. Als dieser mit Gorbatschow heraufdämmerte und sich bei uns immer noch nichts regte, platzte mir der Kragen. Zusammen mit 40 Mitstreitern gründeten wir am 7. Oktober 1989 die SDP um der SED die Stirn zu bieten.

Zwei Tage später, am 9. Oktober, erlebten wir in Leipzig den Sieg der Friedlichen Revolution. Mit dem Ruf: „Wir sind das Volk!“ wurden die entmachtet, die meinten, mit ihrem verlogenen Konstrukt der Diktatur des Proletariats den Volkswillen zu repräsentieren. Bis heute ist mir unbegreiflich, warum der 9. Oktober, das Datum der einzigen siegreichen deutschen Revolution nicht zum nationalen Feiertag erhoben wurde. Alles Weitere, der Mauerfall und die deutsche Einheit waren doch lediglich hierdurch ermöglichte Nachhutgefechte.

Der 3. Oktober ist ein von Helmut Kohl verfügtes Datum, festgelegt aus Angst, es könnte vier Tage später der 41. DDR-Geburtstag gefeiert werden. Nicht zuletzt wegen dieser terminlichen Angstgeburt haben die Feierlichkeiten am 3. Oktober etwas Mühsames.

Ein Fest gelingt, sofern es sich einem unverfügbaren glücklichen Ereignis verdankt, jenem überraschenden Sieg des Volkes in Leipzig. Der Tag der Deutschen Einheit aber ist ein Datum der westdeutschen Enteignung unserer Friedlichen Revolution.

Am 4. November 1989 fühlten wir uns wie der Herr im eigenen Haus. Da glaubten wir, am Rad der Geschichte zu drehen, durchaus mit Zittern und Zagen und dem Gefühl von Überforderung, aber mit Freude und Genugtuung darüber, die Macht, die auf der Straße lag, mutig aufgegriffen zu haben. Viele Gedanken und Forderungen der Redner hatten die etwa 500.000 Demonstranten auf dem Alex bereits mit Applaus bedacht. Als Ulrike Poppe und ich reden sollten, hieß es: Ihr könnt leider nicht mehr ans Mikro. Alle haben ihre Redezeit überzogen. Wir müssen die Demo jetzt beenden. Ich sagte: „Aber der Bezug zum Prager Frühling darf hier nicht fehlen.“ Das leuchtete ein und ich durfte nach oben, blickte in die riesige Menschenmenge, holte tief Luft und begann:

„Liebe Bürgerinnen und Bürger, …eines, denke ich, müssen wir noch sagen, wenn wir jetzt aufbrechen in das Zeitalter der Demokratie. Wir müssen die Schuld (der Niederschlagung des Prager Frühlings) bekennen gegenüber unseren tschechoslowakischen Nachbarn.“ (Der beginnende Applaus signalisiert, dass ich verstanden werde, ich atme auf.)…. „Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden jede künftige Regierung daran messen, ob sie zu einem solchen Schuldbekenntnis in der Lage ist …Vorhin bei Herrn Wolf (Chef der Auslandsspionage) habe ich nicht bemerkt, dass eine Art Schuldbekenntnis zu mir herüber kam. Und sie waren es doch, diese Herren, die uns so viele Jahrzehnte -„um mit Biermann zu reden - ,wie Vieh regiert’ haben….Vor uns liegt kein Schlaraffenland, aber frei und aufrecht werden wir von nun an unsere Wege gehen….“

Fünf Tage danach fällt die Mauer. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Es war abzusehen, dass jetzt andere in Bonn die Sache an sich ziehen.

Auf der Suche nach Brüderlichkeit

Später in der gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat versuchte ich, als Fähnlein aus dem Osten die Mitmenschlichkeit stark zu machen, die bei uns zum Überleben wichtig war. Die Freiheitsrechte sind im Grundgesetz vielfältig enthalten. Gleichheitsrechte werden weiter präzisiert. Wo aber ist die dritte Säule der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit entfaltet? Lasst uns die Begriffe Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn hinzufügen, um das kodifikatorische Ungleichgewicht zu beseitigen. Viele Abgeordnete unterschrieben meinen überfraktionellen Antrag, dessen letzte Fassung als Ergänzung in der Präambel lautete: „…auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend …hat sich das deutsche Volk …dieses Grundgesetz gegeben.“

In letzter Minute jedoch vermutete Jürgen Rüttgers dahinter ein Trojanisches Pferd kommunistischen Inhalts und schrieb an seine Leute: Dies sei der erste Schritt zum vormundschaftlichen Staat. Mit erhobener Nein-Stimmkarte nötigte er 70 seiner CDU-Abgeordneten gegen ihre eigene Unterschrift zu stimmen, obwohl der Berater der CDU in Verfassungsfragen, Professor Isensee, zuvor geschrieben hatte: „Von all den zahlreichen Änderungsanträgen, die gescheitert sind, ist es um einen schade, …, der Unterstützung quer durch alle Fraktionen erfahren hat: ‚Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen’…eine Verfassungsvoraussetzung, aus der die Grundrechtsdemokratie lebt.“

Zehn Jahre später im Entwurf der Charta der Grundrechte der EU

Was dem Abgeordneten aus dem Osten verwehrt wurde, gelangt über einen Kollegen in den Europäischen Konvent und erscheint zehn Jahre später in folgender Fassung im Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union: „Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den zukünftigen Generationen verbunden.“ Und der Bundestag hat kein Problem, dem als Teil einer Verfassung für Europa zuzustimmen.

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Das Thema Mauerfall beschäftigt uns in dieser Woche besonders. Hier weitere Texte zum Lesen:

- Es gab kein Aufhalten mehr: Das Pfarrerpaar Stephan und Annette Flade hat Potsdams erste Großdemonstration vom Neuen Forum am 4. November 1989 mit organisiert. Jahrelang hatten die beiden darauf hingearbeitet.

- Erinnerungen an ein Leben mit der Mauer: Nachts hörte Heidi Kröger die Schüsse an der Grenze. Sie lebte nahe der Glienicker Brücke. Dort werden zum 30. Jahrestag der Grenzöffnung einige ihrer Fotos vom 10. November 1989 gezeigt. 

- "Wir Ostdeutschen werden einfach wegignoriert": Katarina Witt vermittelt zwischen Ost und West. Ein Gespräch über ostdeutsche Unsichtbarkeit, verrohte Debatten und Stasi-Akten - und über ihr neues Projekt in Potsdam. 

Konrad Elmer-Herzig

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