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Es muss anerkannt werden, dass eine strukturell verursachte Ungleichbehandlung zwischen Ost und West existiert.

© Jens Wolf/dpa

Gastbeitrag zur Ost-West-Debatte: Für eine ehrliche Aufarbeitung der Wiedervereinigung

Innerhalb der brandenburgischen SPD geht kurz vor dem Landesparteitag am Samstag die Ost-West-Debatte weiter. Die Potsdamer Bundestagsabgeordnete Manja Schüle fordert, die Ostdeutschen zu Wort kommen zu lassen. Ein Gastbeitrag.

Die jüngsten Wahlergebnisse insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern sowie Umfragen zur Haltung zum politischen System und zur parlamentarischen Demokratie haben mit Wucht eine neue Ost-West-Debatte hervorgebracht, die viele überrascht. Insbesondere erstaunt sie diejenigen, die die Zeit vor und nach dem Mauerfall nicht persönlich in Ostdeutschland erlebt haben. Erst knapp 30 Jahre nach der Wende nimmt nun eine Debatte über die Erfahrungen der Ostdeutschen vor und nach dem Fall der Mauer an Fahrt auf, die Frauke Hildebrandt mit ihrem Vorschlag einer Quote für Führungspositionen völlig zu Recht befördern will.

Die Potsdamer SPD-Bundestagsabgeordnete Manja Schüle.
Die Potsdamer SPD-Bundestagsabgeordnete Manja Schüle.

© promo

Für Außenstehende sind die Erfahrungen der Ostdeutschen nur schwer zu verstehen

Die Erfahrungen der Wendezeit haben die Ostdeutschen in einem Maße geprägt, das nur schwer zu verstehen ist, wenn man diese Zeit nicht selbst miterlebt hat. Der gewollte Übergang in ein neues politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System hat das bisherige Lebensmodell der meisten Ostdeutschen fundamental in Frage gestellt. Viele Ostdeutsche waren zuallererst damit beschäftigt, ihr wirtschaftliches Überleben zu sichern. Sie verloren in Massen ihre Arbeitsplätze, stießen auf ABM-Strukturen und die Deregulierung des Arbeitsmarktes anstelle der politisch versprochenen „blühenden Landschaften“. Bisher staatlich vorgegebene Werte, Lebensweisen und biographische Errungenschaften zählten nichts mehr. Das führte zu Orientierungslosigkeit und Frustration nicht zuletzt bei einer Elterngeneration, die dann wiederum ihren heranwachsenden Kindern nicht den notwendigen Halt und verlässlichen Rahmen geben konnten, den diese für ihre Orientierung in der neuen Erwachsenenwelt gebraucht hätten. Folge war unter anderem eine explosive Zunahme rechtsextremer Einstellungen unter jungen Erwachsenen, die bei der Asyldebatte Anfang der 90er in pogromartigen Ausschreitungen gipfelte und unter der wiederum politisch anders eingestellte Jugendliche persönlich enorm zu leiden hatten. 

Ungerechtigkeiten blieben fühlbar

Und auch in der Folge blieben Ungerechtigkeiten fühlbar. Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und des Nichtgebrauchtwerdens blieb für viele Ostdeutsche weiter aktuell. Ein spürbarer wirtschaftlicher Aufschwung ließ auf sich warten. Manche suchten ihr Glück – oder ihr wirtschaftliches Überleben – in prekären Beschäftigungsverhältnissen in Westdeutschland oder dem deutschsprachigen Ausland wie der Schweiz, dort gefühlt Arbeitskräfte zweiter Klasse, entfernt von ihren zuhause gebliebenen Familien und im besten Falle als Wochenendpendler.

Die gesellschaftliche Anerkennung dieser nicht selbst verschuldeten wirtschaftlichen Realitäten und die Fehler, die im Wiedervereinigungsprozess unzweifelhaft gemacht wurden, ist höchst überfällig. Es ist Fakt, dass der wirtschaftliche Reorganisationsprozess in Ostdeutschland oft und flächendeckend durch die Ignoranz einer kleinen westdeutschen Elite in den so genannten Aufbaujahren in den Führungsetagen geprägt wurde. Die oft zweifelhaften Entscheidungen der Treuhandanstalt haben viel stärkere Verletzungen zugefügt, als sich Verantwortliche in Politik und Wirtschaft das heute vorstellen können. 

Kollektive Perspektivlosigkeit war das Ergebnis

Einzelschicksale wurden zu Massenschicksalen. Kollektive Perspektivlosigkeit für viele Regionen war das Ergebnis und wirkt bis heute nach. Menschen verloren nicht nur ihr Einkommen, sondern ihren „kollektiven Zusammenhalt“. Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt haben das noch verstanden und gehandelt, indem sie dafür kämpften, dass die Menschen ihre Heimat nicht verlieren, sondern blieben. Dieses Bleiben darf sich auch 28 Jahre nach der deutschen Einheit nicht als Fehler erweisen.

Die wirtschaftliche Ungleichheit führt zu vielen Nachteilen in den Einzelschicksalen, die als ungerecht empfunden werden. Gebrochene Erwerbsbiographien und niedrigere Nettolöhne erhöhen das Risiko für Altersarmut eklatant. Die Summe an vererbbarem Vermögen ist naturgemäß in Ostdeutschland deutlich geringer. Und der Anteil Ostdeutscher an Führungspositionen in Verwaltung und Wirtschaft ist vollkommen marginal. Dazu kommen einzelne Fallgruppen wie etwa in der DDR geschiedene Frauen, bei denen Versorgungsausgleich bei gleichzeitigem Wegfall des DDR-Rentensystems fehlt.

Das neoliberale Mantra übersieht die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen

Und deshalb wirkt das neoliberale Mantra in Diskussionen „über den Osten“ für viele Ostdeutsche zynisch, wenn einfach mehr Anstrengungen und Mut von den Ostdeutschen gefordert wird. Dieses Mantra übersieht die verschiedenen Ausgangsbedingungen. Anerkannt werden muss, dass eine strukturell verursachte Ungleichbehandlung existiert. Nicht jedes gesellschaftliche Problem kann der Einzelne durch Anstrengung und Mut kompensieren. Die Gesellschaft spricht ihre Urteile. Unser Ziel muss die strukturelle Stärkung Ostdeutschlands sein. 

Basis dafür ist für mich eine ehrliche Aufarbeitung des Wiedervereinigungsprozesses und der wirtschaftlichen Umgestaltung Ostdeutschlands nach der Wende. Es muss klar benannt werden, welche Fehler durch eine neoliberal orientierte Treuhandpolitik gemacht wurden, welche Perspektiven für ostdeutsche Unternehmen und für ostdeutsche Arbeitsplätze aus profanem Investoreninteresse zerstört wurden. Und es müssen die Menschen gehört werden, die völlig unverschuldet vor den Trümmern ihrer Existenz standen.

Strukturschwachen Regionen muss eine Perspektive gegeben werden

Und es muss eine neue Wirtschaftsförderungs- und Ansiedlungspolitik entwickelt werden, die aus der verfehlten Industriepolitik der 90er gelernt hat und strukturschwachen Regionen eine Perspektive gibt. Jeder weiß, dass das Wirtschaftsleben in der Lausitz nicht durch die Braunkohle dauerhaft am Leben gehalten werden kann. Die glänzende wirtschaftliche Situation Gesamtdeutschlands bietet finanzielle Möglichkeiten, gezielt strukturschwache Regionen und überall vorhandene Wachstumskerne zu fördern, wie es sie an vielen Orten in Ostdeutschland längst und immer noch gibt.

Ich komme täglich mit den Menschen darüber ins Gespräch, welche Erwartungshaltung sie an eine sozial gerechte und gerecht empfundene Politik haben. Ich sage den Menschen nicht, was sie denken oder fühlen sollen. Ich lasse sie selbst zu Wort kommen: Angst vor Altersarmut, Mietpreissteigerungen, Kinderbetreuung, Verkehrsprobleme, Gesundheitsfürsorge, Dieselskandal und ja, auch Angst vor vermeintlicher Überfremdung - das bewegt. 

Ehrliche Aufarbeitung ist ein langer Prozess

Ehrliche Aufarbeitung ist kein Managementseminar, sondern ein sehr langer und komplizierter demokratischer Prozess - weil der „tiefere Sinn des Lebens im Miteinander liegt“ (Regine Hildebrandt). Nur so können Demütigungen überwunden und Gleichheit ermöglicht werden. Lassen Sie uns darüber sprechen - miteinander!

Die Potsdamer SPD-Bundestagsabgeordnete Manja Schüle antwortet mit diesem Gastbeitrag auch auf Positionen von der FDP-Bundestagsabgeordneten Linda Teuteberg und Frauke Hildebrandt (SPD), die Tochter der ehemaligen brandenburgischen Sozialministerin Regine Hildebrandt ist. 

Manja Schüle

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