zum Hauptinhalt
AfD-Anhänger demonstrieren 2015, im Jahr, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, vor dem Landtag. 

© Ralf Hirschberger/dpa

Gastbeitrag: Wie Brandenburgs Spaltung zu überwinden ist

Die rechte AfD ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen – aber das muss nicht so bleiben. Wie man mit politischem Handeln der AfD entgegenwirken kann.

Potsdam - Der Ausgang der Brandenburg-Wahl vom 1. September bleibt ein tiefer Einschnitt in der politischen Entwicklung des Landes, auch wenn sein Ausmaß einstweilen vom erfolgreichen Start der neuen Koalition aus SPD, CDU und Grünen überdeckt wird. Das eigentlich Alarmierende ist nicht, dass SPD, CDU und Linke jeweils ihre schlechtesten Ergebnisse seit 1990 einfuhren, sondern dass eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei fast ein Viertel der Wählerstimmen erhielt und dabei tief in die hiesigen Arbeitnehmerschichten eindrang. Das Ergebnis weist auf eklatante kulturelle, politische und soziale Unterschiede in Brandenburg hin.

Selbst bei den unter 24-Jährigen, bei denen die Grünen mit 27 Prozent führen, liegt die AfD mit 18 Prozent bereits auf dem zweiten Platz. In den mittleren Altersgruppen ist die AfD mit 30 beziehungsweise 27 Prozent vorn, bei den Männern sogar mit 37 Prozent. Bei allen mitten im aktiven Arbeitsleben stehenden Gruppen liegt die AfD in Führung, bei Arbeitern mit 44, bei Angestellten mit 23, bei Beamten mit 28 und bei Selbständigen mit 34 Prozent. Bei den Arbeitslosen erreicht die AfD 43 Prozent – 28 Prozentpunkte vor der SPD. Diese ist mit 36 Prozent nur noch bei über 60-Jährigen und damit bei Rentnerinnen und Rentnern stärkste Partei.

Martin Gorholt, zuletzt Staatskanzleichef.
Martin Gorholt, zuletzt Staatskanzleichef.

© dpa

"Man kann von Spaltungstendenzen sprechen"

Die Unterschiede innerhalb des Landes werden vor allem anhand der polarisierten Ergebnisse von AfD und Grünen deutlich. Im Landkreis Spree-Neiße erreicht die AfD 33,8 Prozent, während die Grünen nur auf 4,5 Prozent kommen. In Potsdam dagegen liegen die Grünen bei 22,2 und die AfD bei nur 13,6 Prozent. Nach der Wahlergebnis-Karte mit der signifikanten Rot-Blau-Trennung ist die SPD eher im Westen, Norden und im südlichen Berliner Umland stark, die AfD im Osten und Süden des Landes.

Man kann von Spaltungstendenzen sprechen. Eine zentrale Differenz stellen aktuell unterschiedliche Sichten zum Klimawandel und zur Dringlichkeit des Kohleausstiegs dar. Dass Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung regional unterschiedlich dynamisch verläuft, wird als soziale Ungleichheit erlebt. Stark auseinandergehende Einstellungen zur Migration sowie zur Frage einer ethnisch homogenen oder heterogenen Bevölkerungsstruktur sind Beispiele für kulturelle Differenzen, die politisch strukturierend wirken. Das hat mit ungelösten Problemen wie prekärer Beschäftigung über sehr viele Jahre, untertariflicher Bezahlung mit Auswirkungen auf die spätere Rentenhöhe, Abstiegsängsten der Industriebeschäftigten und der weiterhin sehr unterschiedlichen Entwicklung zwischen dem Berliner Umland und den weiter entfernten Regionen zu tun.

Tatsächlich ist die Instrumentalisierung sozialer Ungleichheiten durch Rechtspopulisten und Rechtsextremisten ein internationales Phänomen.

Martin Gorholt

Es gibt eine neue "prekäre Unterklasse"

Das alles wird in Brandenburg besonders deutlich, ist aber in ganz Deutschland und Europa zu besichtigen. Tatsächlich ist die Instrumentalisierung sozialer Ungleichheiten durch Rechtspopulisten und Rechtsextremisten ein internationales Phänomen. Es ist das Ergebnis des Verschwindens industrieller Arbeitsplätze sowie der gleichzeitigen Polarisierung zwischen einfacher, oft schlecht bezahlter und prekärer Arbeit im Sozial- und Humandienstleistungssektor einerseits und wirtschaftsnahen, gut bezahlten, mit Aufstiegschancen und zum Teil eng mit den Digitalisierungsprozessen verbundenen Dienstleistungsarbeitsplätzen andererseits. Viele stolze Arbeitnehmer und ihre Familien sind bei diesem Strukturwandel durchs Rost gefallen oder fühlen sich auf der Verliererstraße.

Ostdeutschland hat diesen Strukturwandel seit 1990 im Eiltempo nachholend vollzogen – mit all den kurzfristigen Verwerfungen. Der an der Frankfurter Viadrina lehrende Soziologe Andreas Reckwitz („Die Gesellschaft der Singularitäten“) arbeitet nun in seinem aktuellen Buch „Das Ende der Illusionen“ als wesentliches Strukturmerkmal der „postindustriellen Gesellschaft“ eine neue Klassenstruktur heraus. Diese bestehe aus der kleinen Oberklasse der Milliardäre und Millionäre, der neuen Mittelklasse moderner Dienstleistungsberufe, der alten Mittelklasse aus Industriearbeiterschaft und Angestellten in schlecht bezahlten sozialen Dienstleistungsberufen sowie einer neuen prekären Unterklasse in unsicheren Lebensbedingungen, zwischen staatlicher Unterstützung und Dienstbotentätigkeiten. Weitere Differenzen in Bezug auf Geschlecht, Migrationsstatus oder Stadt-Land-Gefälle kommen hinzu.

Rechtspopulisten suggerieren, dass ein Zurück möglich sei

Diese zerklüftete Gesellschaft mit ihren Fliehkräften ist bester Rohstoff für Rechtspopulisten mit ihren Feindbild-Definitionen und Rufen nach nationaler Abschottung. Reckwitz entwirft als Gegenentwurf einen „regulativen oder einbettenden Liberalismus“, ein Konzept, das ich als soziale und demokratische Politik bezeichnen würde. Rechtspopulisten suggerieren, dass ein Zurück in eine vermeintlich umfassend bessere Vergangenheit möglich sei. Aber eine Politik, die die tatsächlichen Herausforderungen der Gegenwart annimmt, kommt eben an der weiteren Modernisierung der Gesellschaft im Hinblick auf Ökologie und Klimaschutz, Digitalisierung und Migration nicht vorbei. Versuchte sie, sich darum zu drücken, wären wirtschaftlich negative Effekte und Wettbewerbsnachteile die Folge – was soziale Negativfolgen hätte und gesellschaftlichen Zusammenhalt noch schwerer machen würde.

Ostdeutschland ist auf Zuwanderung angewiesen

Als besonderes Problem wird sich auch in Zukunft die Migration erweisen, die seit 2015 die Gesellschaft auseinanderreißt und das Parteiensystem neu sortiert hat. Besonders Ostdeutschland wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf Zuwanderung angewiesen sein – sollen nicht große Teile der Wirtschaft aufgrund von Arbeits- und Fachkräftemangel zusammenbrechen. Schon heute gibt es hier Arbeitsamtsbezirke, die gleichzeitig einen Rückgang an Beschäftigung und eine steigende Zahl offener Stellen ausweisen. Unter diesen Umständen wird Zuwanderung nicht nur deutsche Binnenwanderung und die Rückkehr von abgewanderten Ostdeutschen aus dem Westen bedeuten können. Ökonomisch zwingend ist vielmehr die Arbeitsmigration ausländischer Arbeitnehmer. Schon heute bemühen sich Kommunen um Arbeitskräfte aus Mittelamerika, Asien oder dem Balkan, um mexikanische Pflegekräfte ebenso wie um italienische Kita-Erzieherinnen. 

Eine Politik, die die tatsächlichen Herausforderungen der Gegenwart annimmt, kommt eben an der weiteren Modernisierung der Gesellschaft im Hinblick auf Ökologie und Klimaschutz, Digitalisierung und Migration nicht vorbei.

Martin Gorholt

Ostdeutschland hat nur als Einwanderungsgesellschaft eine Zukunft, ist aber darauf schlecht vorbereitet – ob mental oder infrastrukturell. Die Herausforderungen sind etwa bei Wohnen und Bildung (auch: Erwachsenenbildung) groß. Gerade im Hinblick, ob und wie sich Arbeitsmigration in Ostdeutschland neu strukturieren lässt, wird sich der angekündigte Bau einer Tesla-Fabrik in Brandenburg als harter Test erweisen.

Auch konsequente Abschiebung ist notwendig

Die notwendige Modernisierungspolitik birgt die Gefahr, die Gesellschaft weiter auseinanderzureißen. Akzeptanz wird sie nur unter ganz bestimmten Bedingungen finden: Unbedingt erforderlich ist, dass der inneren Sicherheit, der Zurückdrängung sozialer Ungleichheit, gleichwertigen Lebensverhältnissen und der Durchsetzung von allgemein geteilten gesellschaftlichen Regeln eine neue Priorität eingeräumt wird. Akzeptanz für Arbeitsmigration und eine humane Flüchtlingspolitik werden wir nur schaffen, wenn wir Menschen konsequent abschieben, die zu uns gekommen, aber nicht integrationswillig oder integrationsfähig sind. Dagegen ist es absurd, gut integrierte Menschen abzuschieben, die bei uns Arbeit oder Ausbildung gefunden haben, die wir dringend brauchen.

Der Polarisierung zwischen dem wachsenden digitalen Dienstleistungsbereich und den sozialen Dienstleistungen, dem gut verdienenden digitalen Heimarbeiter und der mies bezahlten Pflegekraft, muss entgegenwirkt werden – mittels sozialer Anerkennung und geringeren Gehaltsunterschieden. Wichtig ist ferner eine systematische und verlässliche Infrastrukturpolitik – sowohl beim Sozialen wie Kita, Schule, Hochschule, Gesundheit und Pflege als auch bei Forschung, Schienennetz oder dem Digitalen, also Mobilfunk und Breitband. Das bedarf einer langfristig sicheren Finanzierung und klarerer Entscheidungsstränge. Nur ein Beispiel: Wenn bisher die Deutsche Bahn für den im Bundesverkehrswegeplan verankerten Ausbau der Strecke Rathenow – Berlin als Fertigstellungstermin das Jahr 2033 nennt, dann untergräbt dies massiv das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates.

Gleichwertige Lebensverhältnisse für Stadt und Land sind notwendig

Es ist absurd, gut integrierte Menschen abzuschieben, die bei uns Arbeit oder Ausbildung gefunden haben, die wir dringend brauchen.

Martin Gorholt

Mut der Politik zu sternförmigen Entscheidungsverfahren statt dem klassischen Eine-Behörde-nach-der-anderen-Prinzip, zur Straffung von ausgeuferten öffentlichen Beteiligungen und zum Abbau von Verwaltungshemmnissen heißt vor allem, im bundesdeutschen Dickicht von Föderalismus und kommunaler Zuständigkeiten Schneisen und Lichtungen zu schlagen. Den Strukturwandel der Industriegesellschaft ökologisch und sozial zu gestalten ist ein weiterer Baustein. Dazu muss das Strukturstärkungsgesetz für die Kohleausstiegsregionen nun endlich schnell beschlossen sowie von Bund, Ländern und Gemeinden zielstrebig umgesetzt werden. Für Industriebranchen wie Stahl oder Zement müssen technische Lösungen für den CO2-Ausstoß gefunden werden. Diese können in der Wasserstofftechnologie oder in der CO2-Abscheidung liegen und müssen strukturpolitisch begleitet werden. Tut man nichts, wird es diese Industrien in absehbarer Zeit nicht mehr geben.

Klar ist, dass die bisherige Abwärtsspirale von räumlicher Entleerung und Infrastrukturabbau endgültig ein Ende haben muss. Auf die Tagesordnung gehört, gleichwertige Lebensverhältnisse sowohl für Stadt und Land als auch für sich gegenläufig entwickelnden Regionen möglich zu machen.

Für Brandenburg liegen Konzepte auf dem Tisch, wie echte Regionalpolitik entstehen kann. Dazu müssen wir unsere eigenen Potenziale – etwa im Metropolenraum Stettin oder beim Flughafen BER – gut nutzen und dafür sorgen, dass die dynamische Entwicklung im Berliner Raum auch die Tiefe des Landes erreicht. Dies gilt auch für Forschung und Entwicklung oder moderne digitale Arbeitsweisen. Die Landesregierung hat etwa mit dem eine Milliarde Euro umfassenden Investitionsfonds für strategische Infrastruktur oder der Lausitz-Strukturentwicklungsgesellschaft dafür bessere Instrumente als bisher.

Es muss neue kulturelle Grundregeln geben

Hinzukommen muss eine neue Verständigung auf kulturelle Grundregeln (Reckwitz), auch angesichts von notwendiger Migration und erst Recht in Zeiten gehässiger und demokratiefeindlicher Kommunikation in den sozialen Medien. Ebenfalls erforderlich sind neue Anreize für gesellschaftliches Engagement. Gefragt sind dabei Bildungs- und Erziehungsinstitutionen, insbesondere der politischen Bildung und der Zivilgesellschaft, die für Respekt und Toleranz eintreten. Dazu gehört auch eine neue wirtschaftlich tragfähige Medienordnung und -förderung nicht erst für die Zeit, wenn im Jahr 2035 die Printmedien ganz verschwunden sein werden.

Gesellschaftlichen Fliehkräften und Polarisierungen kann erfolgreich entgegengewirkt werden. Dabei gilt: Wer für die Schwachen stark sein will, muss bei den Starken stark sein. Dies ist eine gesellschaftspolitische Maxime. Der sich weiter beschleunigende Strukturwandel muss von einem starken, aktiven und vorsorgenden Staat begleitet werden, eingebettet in eine lebendige Zivilgesellschaft. Die schon lange als „Politikverdrossenheit“ diskutierten Phänomene lassen in keiner Weise nach. Politik und Parteien werden weiter um nachhaltige Vertrauensarbeit ringen müssen. Offene und direkte Dialogformen gehören genauso dazu wie das Experimentieren an einer Neuaufstellung von demokratischer Öffentlichkeit in den sozialen Medien.

Ein Niedergang des Rechtspopulismus ist derzeit auch in Brandenburg nicht absehbar. Noch schreitet der Autoritätsverlust der Volksparteien weiter voran. Dem kann nur durch erfolgreiches politisches Handeln entgegengewirkt werden.

Martin Gorholt

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false