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Gastbeitrag: Warum eine Ostquote nötig ist

Der Osten hat eine viel zu kleine Lobby in Deutschland - selbst 30 Jahre nach der Wende. Es braucht daher eine Ostquote, fordert Frauke Hildebrandt, Potsdamer Sozialwissenschaftlerin und Tochter von Regine Hildebrandt. Ein Gastbeitrag.

Potsdam - Wir wohnen in Brandenburg auf dem Land. Seit einigen Jahren bemerken wir, dass sich die Stimmung deutlich verschlechtert. Weil ich die Tochter von Regine Hildebrandt bin, sprechen mich die Leute häufig an und sagen mir, ihnen fehle jemand wie meine Mutter, die für den Osten gekämpft habe. Ich finde solche Gespräche schwierig. Nicht nur, weil ich einige sehr engagierte Politikerinnen kenne.

Noch immer Ungerechtigkeiten zwischen Ost und West

Trotzdem haben wir angefangen, uns die Fakten zum Osten genauer anzuschauen. Da zeigen sich in jeder Statistik – ob bei der Wirtschaftskraft, den Löhnen und Einkommen oder der Entwicklung der Vermögen – Unterschiede und Ungerechtigkeiten. Das war mir nicht neu.

Erstaunlich sind für mich jedoch zwei Sachverhalte, die damit in Verbindung stehen: Obwohl wir im Osten Deutschlands täglich mit diesen Unterschieden und Ungerechtigkeiten leben, scheinen sie in weiten Teilen des Westens kaum bekannt zu sein. Immer wieder erzähle ich interessierten Wessis von den schwierigen Nachwendeerfahrungen der Eltern meiner Freunde und wundere mich: Bis heute hat es sich nicht herumgesprochen, dass der Soli auch im Osten gezahlt wird. Man weiß in Deutschland außerhalb des Ostens wenig über diese Himmelsrichtung. Und: Wenn ich in bundesdeutschen Gremien Ungerechtigkeiten klar benenne, dann ist es, als ob ich in Watte spräche, als gäbe es keinen Resonanzraum für diese Probleme. Sicher, der Osten wird pflichtgemäß mitbehandelt, und ich darf auch ausreden, aber in den Pausen ist der Osten kein Thema. Wieso ist das so?

Der Osten hat eine viel zu kleine Lobby

Einige Zahlen aus dem Impulspapier Ost der SPD, das Manuela Schwesig in der letzten Woche präsentierte, geben eine Antwort. Der Osten hat knapp 30 Jahre nach der Wende eine viel zu kleine Lobby: In den in Ostdeutschland angesiedelten Bereichen der Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft, der Medien und des Militärs besetzen Ostdeutsche gerade mal 25 bis 35 Prozent der Spitzenpositionen. Nur 13 Prozent der Richter stammen aus dem Osten, und nur zwei von 13 östlichen Regionalzeitungen werden von Ostdeutschen geleitet. Bundesweit ist die Kluft natürlich noch größer: 1,7 Prozent der Spitzenpositionen sind mit Ostdeutschen besetzt – bei 17 Prozent Bevölkerungsanteil. Man stelle sich letzteres vor: Nicht jeder sechste im Raum sieht sich selbstverständlich als Vertreter für ostdeutsche Anliegen, sondern nur jeder 60. Das ist kein kleiner Unterschied. Er ist gigantisch!

Diese krasse Minderrepräsentanz ist auf eine strukturelle Benachteiligung von Bürgern aus Ostdeutschland zurückzuführen. In der Ost-Konferenz der Bundesarbeitsgemeinschaft für Bildung der SPD diskutierten wir darüber und benannten drei Gründe:

Personal aus alten Ländern besetzten neue Schlüsselpositionen

1990 wurden in Ostdeutschland beim Aufbau von Wirtschaft, Landes- und Kommunalverwaltung, Justiz und Hochschulen, in kommunalen Spitzenverbänden und Medien nahezu alle Positionen mit Personal aus den alten Bundesländern besetzt. Für Stellennachbesetzungen durch Westdeutsche sorgten die etablierten Netzwerke. Ganz davon abgesehen, dass Menschen, deren schulische Bildungsbiographie sich in den ostdeutschen Bundesländern verortet, strukturell benachteiligt sind, weil die DDR-Gesellschaft logischerweise andere Erfordernisse hatte und andere Erwartungen definierte, als die heutige Gesellschaft. Zentral waren Werte des Sich-Einordnens in eine Gemeinschaft, Werte der persönlichen Zurückhaltung in öffentlichen und sozialen Kontexten. Ausgelöst durch die Infragestellung der bisherigen Bildungsbiographie, die Abwertung der Ausbildungswege und die Verpflichtung zur Nachqualifizierung in den 1990er Jahren, entstand ein Prozess der Verunsicherung im neuen System, der die Neuorientierung erschwerte.

Einer strukturellen Benachteiligung muss man strukturell begegnen. Deshalb fordern wir die Einführung einer Ostquote von 17 Prozent für Führungskräfte in Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltungen, in Justiz und Hochschulen, in kommunalen Spitzenverbänden und Medien im gesamten Bundesgebiet. Unser erster Vorschlag: Als Ostdeutsche gelten Menschen, deren Sozialisation in den ostdeutschen Bundesländern erfolgte oder erfolgt, das heißt, deren schulische Bildungsbiographie in den ostdeutschen Bundesländern angesiedelt war und sich bis heute dort verortet. Zu überlegen wäre, ob die Sozialisation der Eltern in die Definition von „ostdeutsch“ einbezogen werden soll. Denn: Ein Problem, das sich 30 Jahre hält, hat eine Vorgeschichte und lässt sich nicht im Handumdrehen lösen. Erstaunlich, dass diesem offensichtlichen Missverhältnis nicht schon früher strukturell und systematisch entgegengewirkt wurde.

Viele schrecken bei Ostquote-Diskussion zurück

Unsere Erfahrung zeigt, dass zunächst viele Leute bei der Diskussion um die Ostquote zurückschrecken, ostdeutsche genauso häufig wie westdeutsche. Nach Sichtung der Zahlen und Fakten allerdings stellt sich eine solche Forderung als naheliegende gesamtdeutsche Aufgabe dar.

Minderrepräsentanz einer großen Bevölkerungsgruppe ist übrigens nicht nur ungerecht, sondern auch schädlich für die Demokratie; eine Gruppe, die nicht vertreten wird, verabschiedet sich auch innerlich. Und wer sagt, dass es albern sei, 30 Jahre nach der Wende eine Quote zu fordern, möge sich nur noch einmal die Zahlen anschauen. Wer meint, die Forderung nach einer Quote spalte, dem kann ich nur sagen, dass Ungerechtigkeit spaltet, nicht aber der Versuch, sie anzusprechen und auszugleichen. Zwar ist vorstellbar, dass eine Ostquote juristische Fallstricke hat. Aber man könnte ja mit Juristen – vermutlich aus dem Westen – darüber nachdenken, wie es geht und was sonst nötig wäre, um die vielen Forderungen zu Lohn, Rente und auch zur Aufarbeitung der Nachwendezeit durchzusetzen. Welcher Spruch meiner Mutter hängt in Brandenburg an mannshohen Bannern? „Erzählt mir doch nicht, dasset nicht jeht!“

Frauke Hildebrandt

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