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Immer wieder streiten die Bundesländer über ein Zentralabitur.

© Julian Stratenschulte/dpa

Gastbeitrag: Die Utopie vom deutschen Zentralabitur

Der Potsdamer Mathematik-Experte Helmut Assing über die Ablehnung eines Nationalen Bildungsrates durch Bayern und die Unterschiede des Abiturniveaus zwischen Brandenburg und dem Freistaat.

Der folgende Beitrag entstand vor den ablehnenden Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) zum Nationalen Bildungsrat, für die ich  volles Verständnis habe.

Vielleicht war ein gewisser bayerischer Eigensinn dafür mitverantwortlich, doch ausschlaggebend dürften die  kaum zu lösenden Probleme gewesen sein, auf dem Wege zu einer Vereinheitlichung der Bildungsanforderungen voranzukommen. Mein Beitrag ist ein Versuch, diese Probleme sichtbar zu machen.

Seit Anfang Juli, als die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann öffentlich über die ihres Erachtens in den nächsten Jahren anstehende Einführung eines bundesweiten Zentralabiturs sprach, ist eine Vielzahl von Beiträgen in den Medien erschienen, aus denen deutlich wird, dass eine große Mehrheit der Deutschen das Zentralabitur wünscht. Deren Hauptargumente leuchten anscheinend schnell ein: Zum einen sind die Abituranforderungen  zwischen den Ländern nicht nur schlechthin verschieden, sondern, wie zu zeigen ist, im Schwierigkeitsgrad gestaffelt; die Universitäten der Länder mit vermeintlich oder tatsächlich höheren Anforderungen  erschweren daher oft den Abiturienten aus Ländern mit „schwächerem“ Abitur die Studienaufnahme. Und zum anderen haben die Kinder der vielen Familien, die während deren Schulzeit ein oder sogar mehrere Male das Bundesland wechseln,  sehr oft Lernschwierigkeiten wegen der unterschiedlichen Anforderungen, die vom Abitur auf die vorhergehenden Schuljahre ausstrahlen. All das, so meinen die Anhänger eines einheitlichen deutschen  Abiturs, dürfte ausreichen für dessen Einführung, und sie schimpfen im Nachsatz auf die unbewegliche Politik. 

Bildungspolitische Zerissenheit 

Leider sehen die Realitäten aber anders aus; die angeführten Gründe reichen nicht aus, weil wichtige Umstände, die dagegen stehen, unbeachtet geblieben sind. Da wäre als erstes der Entstehungsweg  der derzeitigen  bildungspolitischen Zerrissenheit  zu nennen. Regionale Festlegungen fürs Abitur haben in Deutschland eine weit zurückreichende Vergangenheit, und sie waren in der erfolgreichsten Zeit des deutschen Abiturs, in den Jahrzehnten vor und nach 1900, noch stärker ausgeprägt als heute. Das einzelne Gymnasium hatte großen Einfluss auf die Niveaubestimmung, und das höchste Ansehen hatten die Gymnasien, die überdurchschnittlich viel verlangten. 

Das dadurch bedingte nicht gerade „glänzende“ Zensurenbild der Schüler hielt anspruchsvolle Eltern, von denen es nicht wenige gab, nicht davon ab, diese Gymnasien zu meiden, und so konnte die Universität auf viele hervorragend geschulte Studenten zurückgreifen sowie selbst noch Hochleistungen fordern, so dass die seit 1901 das Ranking namhafter Wissenschaften  bestimmenden Nobelpreise für mehr als zwei Jahrzehnte hauptsächlich an deutsche Wissenschaftler gingen. Als dann aber nach 1945 das Allgemeininteresse an besonderen Schulleistungen nachließ, doch regionale Besonderheiten erhalten geblieben bzw. diverse bildungspolitische Ausrichtungen hinzugetreten  waren, fing die Gleichschaltung der Anforderungen auf der Basis von Besatzungszonen und  Ländern den  Niveauabfall auf und dürfte auch heute noch als gut angemessene Lösung angesehen werden. 

Allerdings einmal entstanden, prägte die Ländergliederung der Bildung die Unterschiede auch im Anforderungsniveau  fast mit Notwendigkeit aus, so dass heute das deutsche Bildungssystem  ein sehr uneinheitliches, jedoch tief verwurzeltes Bild bietet.

Fragt man nun nach  den Möglichkeiten, einen solchen „von unten“ gewachsenen Zustand zu beseitigen, so fällt der Blick auf die DDR, die 1950/51 das Schulwesen der fünf  Länder Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg einheitlichen Regeln unterwarf. Der Prozess verlief unter der bestimmenden Zielrichtung der SED, so dass der durchaus bestehende Widerstand relativ leicht überwunden werden konnte. Hinzu kam, dass die Länderverantwortung noch sehr jung war, so dass, fasst man beide Umstände zusammen, die Bedingungen heute ungleich schwerer sind und ein Erfolg ohne demokratische  Aussprache unter den Ländern unerreichbar wäre. 

Helmut Assing
Helmut Assing

© privat

Spitzenländer Sachsen und Bayern 

Der erste Schritt dabei müsste selbstverständlich die Bestimmung der Schwierigkeitsstufe der in Zukunft einheitlichen  Anforderungen sein, und hier dürften sich alle Länder mit ersichtlich schwächeren Anforderungen unterschiedlichen Gewichts den Ländern mit dem höchsten Niveau anzupassen haben. In meinem Verständnis, das allerdings auf noch nicht abgeschlossenen Recherchen beruht, wären Sachsen und Bayern als „Spitzenländer“ zu nennen, die beide in den letzten Jahren aber Konzessionen im Niveau erkennen ließen, so dass deren Bereitschaft, im Interesse einer Vereinheitlichung weitere Zugeständnisse zu machen, völlig unwahrscheinlich sein dürfte.. Die übrigen Länder werden  deshalb nicht umhin kommen, sich der Mühe zu unterziehen, die eigenen Anforderungen zu erhöhen. 

Vergleich zwischen Brandenburg und Bayern 

Was das bedeutet, sei  an einem Vergleich zwischen Brandenburg und Bayern hinsichtlich der Mathematikanforderungen demonstriert. Der Unterschied beginnt damit, dass in Bayern alle Abiturienten an der schriftlichen Mathematikprüfung teilzunehmen haben, während  sie in Brandenburg diese Prüfung umgehen können, wovon gerade schwächere Schüler  gern Gebrauch machen.  Obendrein treffen in Brandenburg, wenn Prüfungsaufgaben zur Auswahl anstehen, die Schüler die Entscheidung, in Bayern aber die Lehrer, so dass schon die Rahmenbedingungen so unterschiedlich sind, dass eine Anpassung an Bayern den Zensurenschnitt in Brandenburg sinken lassen würde.

Wir werden sehen, dass die weiteren Verschiedenheiten, die sich  nunmehr direkt auf  den mathematischen Stoff beziehen, diese Tendenz verstärken. Schon der Stoffumfang an sich, den die Schüler in der schriftlichen  Prüfung zu bewältigen haben,  spricht als erstes dafür. Er ist in Bayern fast doppelt so groß wie in Brandenburg, so dass die bayerischen Schüler  in viel kürzerer Zeit den Lösungsweg parat haben müssen., worunter wiederum diejenigen mit schwächeren Leistungen besonders betroffen sind.  

In Brandenburg fehlen Denkaufgaben 

Dabei handelt es sich in der Regel in Bayern nicht um leichtere Aufgaben, sondern – ein zweiter Aspekt in den Unterschieden – um schwerere, daran erkennbar, dass mathematisch begründende Denkaufgaben stark vertreten sind, während sie in Brandenburg so gut wie fehlen. Denn Brandenburg offeriert in besonderen Hinweisen fürs Abitur seit Jahr und Tag, dass Beweise nicht verlangt werden, womit der schwierigste Aspekt mathematischer Tätigkeit ausgeklammert bleibt. Darüber helfen auch die Aufgabenvorschläge nicht hinweg, die seit einiger Zeit vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), dem wissenschaftlichen Leitinstitut der Kultusministerkonferenz, herausgegeben werden und zweifellos eine gewisse Nivellierung zwischen den Ländern erreichen können. Doch sie basieren auf den im gleichen Institut entwickelten zentralen „Bildungsstandards“, die nach Auffassung der mathematischen Fachverbände – jüngst erst wieder im Februar 2019 bekräftigt - sowie ergänzend und präzisierend nach meiner Untersuchung „Was ist das Abitur in Brandenburg noch wert?“ zu unsystematisch, zu undeutlich und zu lückenhaft aufgebaut sind, so dass die vorgeschlagenen Schwierigkeitsbewertungen  öfters fragwürdig sind oder von den Ländern verschieden verstanden werden. 

Ein Extrem in dieser Hinsicht brachte das diesjährige Abitur bei den Stochastikaufgaben in Brandenburg. Offiziell galten beide Aufgaben  als gleichwertig, doch die Schüler sahen – völlig berechtigt – derartige  Unterschiede, dass  sie landesweit fast einhellig die gleiche Aufgabe wählten. Meine Nachfragen in mehreren Gymnasien ergaben sogar, dass dort nicht ein Schüler aus der Reihe getreten war. Die Aufgabe hatte – das sei hier nicht nebenbei bemerkt – Ähnlichkeit mit einer der bayerischen Aufgaben und kam nahe an deren Schwierigkeit heran, die in Bayern  20 von 120 Wertungspunkten einbrachte. Die analoge Aufgabe  in Brandenburg, obwohl etwas leichter, war dagegen bei gleicher Gesamtzahl 25 Punkte wert. So deutlich liegen mitunter trotz der nivellierenden Vorschläge des IQB  die Länder immer noch  auseinander!

Die Themenkomplexe werden nicht ausgeschöpft 

Darüber hinaus schöpft Brandenburg als drittes Moment im Unterschied zu Bayern die zentral von der Kultusministerkonferenz vorgegebenen mathematischen Themenkomplexe bis heute nicht aus; nach harten Auseinandersetzungen, an denen ich einen nicht geringen Anteil hatte, ist es endlich gelungen, dass Brandenburg in Aussicht gestellt hat, im Abitur 2021 mit den trigonometrischen Funktionen, die noch nie in einem zentral in Brandenburg konzipierten Abitur enthalten waren, die letzte bisher unterschlagene Thematik zu berücksichtigen. Ein Ende ist also abzusehen, und  das gilt auch für den  Niveauunterschied  in der Verwendung der Rechner, da Brandenburg 2021 die ein-fachen Rechner (ohne CAS) aus dem Verkehr zieht. Vorläufig haben beide Länder aber noch Aufgabensätze in zwei Varianten, allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, dass in Bayern die  CAS-Variante wegen der  Rechenvorteile schwieriger strukturiert ist als die Nicht-CAS-Variante, während in Brandenburg beide  fast gleichwertig sind, so dass die CAS-Schüler zusätzliche Erleichterungen besitzen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das so bleiben soll und Brandenburg keine neue Berechnungsbasis für CAS schafft. 

Zu vielen Schülern wurde das Tor zum Abitur geöffnet 

Soweit die Übersicht über die nicht geringe Zahl an Unterschieden in den  Anforderungen zwischen den beiden Ländern. Unter Einbeziehung des Umstandes, dass in Brandenburg derzeit die Quote der Schüler, die das Abitur bestehen, nicht sichtbar besser als in Bayern ist, dürfte sofort einleuchten, dass  eine allseitige Anhebung des brandenburgischen Niveaus die dortigen Abiturergebnisse  erheblich unter den bayerischen Zensurenschnitt sinken lassen würde, so dass das Land etwas blamiert dastände.  Um das zu verhindern, bliebe Brandenburg aber nur der Weg, die Aufnahme von Schülern in die Gymnasien und erweiterten Gesamtschulen zu drosseln. Damit würde es sogar sein Kerndilemma beseitigen, denn die brandenburgischen Schüler sind in ihrer Gesamtheit sicher nicht dümmer als die bayerischen; allein das Land hat ganz einfach zu vielen Schülern mit mittelmäßiger Begabung und Leistung das Tor zum Abitur geöffnet. 

Dafür sprechen die vorliegenden  Indizien, und  meine Erfahrungen ordnen sich nach fast 20 Jahren Nachhilfe hier nahtlos ein: Es ist fast unglaublich, dass selbst minderbegabte Schüler in den Gymnasien zu finden sind. Die Lösung läge demnach auf der Hand, doch der skizzierte Weg ist nicht beschreitbar: Eine Drosselung der Zahl der Gymnasiasten wird zur  Schließung oder Unterbesetzung zahlreicher brandenburgischer Gymnasien  führen mit negativen Folgen für viele Lehrer, die zu entlassen oder zu versetzen wären.  Daraus würden  wieder soziale Spannungen erwachsen, die  Brandenburg nicht zusätzlich braucht und auch nicht wünscht. Ein solcher Weg ist verbaut.

Das bedeutet nun nicht, dass das Land überhaupt keine Bewegungsmöglichkeiten im Abiturniveau hat. Wie schon gesagt, ist Bewegung eingetreten, und so sollen die letzten der quasi illegalen Erleichterungen bis 2021 beseitigt sein. Als Grenzfall der staatlichen Vorschriften bleibt die Aufnahme von Beweisaufgaben aber noch im Gespräch. Von der Sache her eigentlich eine Selbstverständlichkeit,  lassen die „Bildungsstandards“  mit ihrer oft undeutlichen Ausdrucksweise  Brandenburg leider Raum, im Abitur auf Beweise zu verzichten. Dieser Schatten  sollte als nächstes übersprungen werden, gefolgt von einer weiteren Maßnahme, die m.E. ebenfalls verkraftet werden kann: die Einführung der Teilnahmepflicht an der schriftlichen Mathematikprüfung für alle Schüler. 

Mehr ist wohl derzeit nicht zu erreichen, da ja auch in anderen Schulfächern Rückstände zu minimieren sind. Zu denken wäre insbesondere an die Physik, die generell in der deutschen Schule den bedenklichen Prozess der Entmathematisierung nimmt, in dem  Brandenburg  eine Vorreiter-rolle zu besitzen scheint. Daran gemessen, sind  die beiden Änderungsvorschläge nicht von ungefähr. Sie werden merklich Wert und Ansehen des brandenburgischen  Mathematikabiturs erhöhen.

Helmut Assing

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