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Anteilnahme. Der Flüchtlingsjunge Mohamed wurde im vergangenen Herbst vor dem Lageso entführt, wo damals auch mit Kerzen an ihn erinnert wurde

© dpa

Fall Mohamed: Polizei wehrt sich gegen Vorwürfe: Heikle Spurensuche

Der Vorwurf einer „Fahndung zweiter Klasse“ im Fall des ermordeten Flüchtlingsjungen Mohamed empört Berliner Polizisten. Sie verweisen auf widersprüchliche Aussagen der Mutter. Dennoch bleiben Fragen.

Von Sandra Dassler

Berlin/Potsdam - „Mohamed war aufgeweckt und wissbegierig“, sagt Vaja Marcone: „Er hatte an einer von uns organisierten Malgruppe in der Nähe des Reinickendorfer Flüchtlingsheims, in dem er mit seiner Familie wohnte, teilgenommen. Wir konnten erst gar nicht glauben, dass er das verschwundene Kind ist. Und waren tief erschüttert über seinen Tod.“ Erschüttert waren viele, als die Leiche des am 1. Oktober 2015 am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) entführten Flüchtlingskinds fast genau vier Wochen später im Auto des 32-jährigen Silvio S. entdeckt wurde.

Ihm wird auch die Entführung und der Mord an dem sechsjährigen Elias aus Potsdam zur Last gelegt. Der Junge war am 8. Juli von einem Spielplatz im Stadtteil Schlaatz verschwunden. Hunderte Potsdamer beteiligten sich an der Suche. Silvio S. führte die Ermittler später zu einem Grundstück bei Luckenwalde, wo er Elias Leiche vergraben hatte.

Mohameds Familie verdächtigt: Kritik an Ermittlungsarbeiten 

Polizisten hatten Tränen in den Augen, auch Benedikt Lux bekennt: „Ich habe erst einmal geweint.“ Jetzt hat der innenpolitische Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus allerdings scharfe Kritik an der Polizei geübt. Wie berichtet, wirft er ihr vor, nachlässig ermittelt und vorrangig Mohameds Familie verdächtigt zu haben. Ausgehend von einem „Spiegel“-Bericht, der den Berliner Kriminalisten unter anderem eine „Fahndung zweiter Klasse“ vorwirft, fordern die Grünen eine gründliche Untersuchung.

Doch was ist dran an den Vorwürfen? Gab es Ermittlungspannen? Und wurden diese gar durch Vorurteile der Polizei ausgelöst? „Wenn es Fehler gegeben haben sollte, muss man diese selbstverständlich auswerten“, sagt der Berliner Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Michael Böhl: „Aber ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass kein einziger meiner Kollegen weniger schnell und sorgfältig ermittelt hat, weil es sich bei dem Vermissten um ein Flüchtlingskind handelte.“

Unstimmigkeiten in Aussagen von Mohameds Mutter

Laut Böhl machen die Vorwürfe viele Berliner Ermittler betroffen, die sich allerdings derzeit nur schwer rechtfertigen könnten, weil die Pressehoheit im Fall Mohamed allein bei der Staatsanwaltschaft Potsdam liegt. Auch Berlins Polizeisprecher Stefan Redlich kann nur wiederholen, was er im Fall Mohamed schon öfter gesagt hat. „Es gab am Anfang sehr viele Unstimmigkeiten in den Aussagen von Mohameds Mutter, denen wir nachgehen mussten. Das hat aber nichts mit einem Generalverdacht gegen die Familie oder gar Ermittlungen gegen sie zu tun.“

Tatsächlich hatte Mohameds Mutter zunächst unterschiedliche Angaben zum Verschwinden ihres Sohns gemacht. So gab sie zunächst an, sie hätte das Kind mitgenommen, als sie endlich an der Reihe war. Später stellte sich heraus, dass dies nicht stimmte – ebenso wenig wie weitere Angaben über den angeblichen Aufenthalt des Kindes. Später erzählte die Frau, Mohamed sei vielleicht bei Verwandten in einem anderen Bundesland – „natürlich mussten unsere Kollegen allen diesen Hinweisen nachgehen“, sagt Stefan Redlich, „es ist ja nicht völlig ungewöhnlich, dass Kinder von Familienangehörigen entführt werden.“

Erst Tage nach Mohameds Verschwinden wurde Überwachungsvideo gefunden

Parallelen zu den teilweise völlig einseitigen Ermittlungen in den Mordfällen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) weisen die Berliner Kriminalisten weit von sich. Man habe auch, aber keinesfalls nur oder auch nur vorrangig im familiären Umfeld ermittelt, heißt es, sondern bereits am Tag von Mohameds Verschwinden das gesamte Lageso-Gelände und auch die umliegenden Straßen und Parks gründlich abgesucht. Am zweiten und dritten Tag seien Plakate mit dem Bild des Jungen und der Bitte nach Hinweisen verteilt, am vierten Tag die Öffentlichkeitsfahndung eingeleitet worden. Dass man erst am sechsten Tag nach dem Verschwinden mit Spürhunden nach Mohamed gesucht hat, begründet die Polizei später damit, dass nicht klar war, wo genau der Junge zuletzt gesehen wurde und wo man also die Spürhunde ansetzen konnte.

Schwer nachvollziehbar ist allerdings, warum erst Tage nach dem Verschwinden des Jungen die Videoaufzeichnung aus einer Überwachungskamera entdeckt wurde, auf der zu sehen ist, wie Mohamed am 1. Oktober gegen 14.40 Uhr an der Hand von Silvio S. das Lageso-Gelände verlässt. Laut „Spiegel“ hatten sich die Ermittler auf die Aussage eines Angestellten der Sicherheitsfirma verlassen, wonach es keine Überwachungskameras gäbe. Dieser habe aber nur einen bestimmten Bereich gemeint, zudem seien die Kameras selbst für Laien sichtbar am Lageso-Gelände angebracht. Polizeisprecher Redlich ist sicher, dass die Ermittler nicht nach Kameras, sondern danach gefragt haben, ob es Aufzeichnungen gibt. Dies sei verneint und erst später revidiert worden. Das sei möglicherweise ein Fehler gewesen, sagt BDK-Chef Böhl: „Wenngleich die Kollegen keinen Grund hatten, der Aussage des Sicherheitsmannes zu misstrauen.“

Schnellere Überführung von Silvio S. möglich

Ob man Mohamed hätte retten können, wenn das Video unmittelbar nach der Entführung entdeckt und sofort eine Großfahndung ausgelöst worden wäre? Der Junge wurde nach bisherigen Ermittlungen am Morgen nach seinem Verschwinden von Silvio S. getötet. „Zumindest hätte man den Tatverdächtigen schneller überführen können“, sagte der BDK-Bundessprecher für Prävention und Opferschutz, Hermann-Josef Borjans, am Sonntag dieser Zeitung.

Für Borjans sind im Fall Mohamed noch einige Fragen offen. Deshalb fordert er, dass die Verantwortlichen bei Polizei und Politik rückhaltlos die Fakten offenlegen. Man solle zunächst den Prozess abwarten, meint hingegen ein Anwalt von Mohameds Mutter. Zur Kritik an der Polizei möchte er sich nicht äußern – auch, weil die Situation für seine Mandantin ohnehin schon schwer genug sei.

Das sagt auch Vaja Marcone. Ihr Sohn Giuseppe war 2011 auf der Flucht vor Schlägern vor ein Auto gelaufen und gestorben. Die nach ihm benannte Stiftung kümmert sich um Opfer von Gewalttaten. Marcone kann verstehen, dass die Mutter auch aus Schuldgefühlen heraus nicht sofort die Wahrheit sagte. Sie hätte so lange vor dem Lageso gewartet und als sie endlich dran gekommen sei, habe sie wohl einen Bekannten gebeten, nach Mohamed zu schauen. „Und außerdem konnte sie sich wohl wie viele Flüchtlinge nicht vorstellen, dass es in dem Land, das sie für perfekt und gut halten, auch so böse Menschen gibt.“

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