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Europäerin aus Guben. Ska Keller will europaweite Spitzenkandidatin der Grünen werden.

© Mike Wolff

Europawahl 2019: Ska Keller: „Im Osten müssen wir noch reinbuttern“

Europa-Spitzenkandidatin Ska Keller spricht im Interview über Nationalisten in der EU, die Grünen in Ostdeutschland und ihre Heimat Brandenburg.

Frau Keller, die Grünen sind vor allem eine Großstadtpartei. Was ist Ihnen eigentlich der ländliche Raum wert?
Sehr viel. Wir haben zwar in urbanen Milieus die höchsten Prozentzahlen, legen aber auch im ländlichen Bereich deutlich zu. Landwirtschaft oder die Lebensqualität auf dem Land, das alles sind wichtige Themen, um die wir uns kümmern.

Was löst es bei Ihnen aus, wenn Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann gewaltbereite männliche Flüchtlinge „in die Pampa“ schicken will?
Seine Wortwahl finde ich nicht ansprechend. Klar ist: Wir haben immer dezentrale Unterbringung gefordert, nicht nur, weil das die Integrationschancen verbessert. Wenn man Leute in Masseneinrichtungen unterbringt, sorgt das auch für wirklichen Konfliktstoff. In einem Punkt würde ich Winfried aber widersprechen: Gegen Gewalttäter muss man strafrechtlich vorgehen, nicht mit Verschickung aufs Land.

Sie selbst sind in der Kleinstadt Guben nahe der polnischen Grenze aufgewachsen. Würden Sie das als Pampa bezeichnen?

Guben ist schon ziemlich weit weg. Aber Pampa würde ich nicht sagen, das klingt abwertend.

Wie lebt es sich dort?

Viele Ostdeutsche haben in den letzten 30 Jahren das Schrumpfen ihrer Städte oder Dörfer erlebt. Das geht an die Identität. Zu Wendezeiten hatte Guben noch 38 000 Einwohner, heute sind wir bei 18 000. Vorher waren wir eine ordentliche Kleinstadt mit Industrie, dann wurden Wohnungen abgerissen und der Jugendclub geschlossen.

Ist das auch ein Grund für den Politikverdruss, der heute zu hohen Zustimmungswerten für die AfD führt?
Wenn die Leute den Eindruck haben, dass der Staat sich nicht mehr kümmert, ist das ein Problem. Das fängt damit an, dass es keine Zugverbindungen oder Busse mehr gibt. Wenn die Post und der Jugendtreff zugemacht haben, wo bleibt dann noch der Ort für Begegnung? Mit der Frage, wie man Lebensqualität im ländlichen Raum erhalten kann, haben sich die ostdeutschen Landesregierungen viel zu wenig beschäftigt. Aber auch die Bundesregierung hat das verschlafen. Ich kenne junge Leute, die sagen, sie wollen eigentlich nicht aus ihrer Heimat weggehen. Aber sie haben das Gefühl, dass sie müssen.

Was wollen Sie dem Trend entgegensetzen, dass immer mehr Menschen in die Metropolen ziehen?
Ich kann den Leuten nicht vorschreiben, wo sie wohnen. Ich selbst bin ja auch aus Guben weggegangen. Umso wichtiger finde ich, dass kleine Städte und ländliche Gebiete lebenswert bleiben. Dass es einen Arzt gibt, eine Schule, Treffpunkte, Bahnverbindungen. Europa bietet da übrigens neue Chancen.

Inwiefern?
Guben ist eine Stadt auf der Grenze. Im polnischen Gubin herrscht eher Wohnungsnot, während in Guben Wohnungen leer stehen. Es hat lange gedauert, bis der Wohnungsmarkt zusammengewachsen ist. Aber inzwischen leben viele Polinnen und Polen in Guben, einfach weil es da Wohnraum gibt. Davon profitieren beide Seiten.

Warum gelingt es den Grünen nicht richtig, in Ostdeutschland Fuß zu fassen?
Natürlich sind die Umfragewerte nicht so wie in Westdeutschland, im Osten müssen wir noch reinbuttern. Aber es tut sich was. Auch in meinem Kreisverband Spree-Neiße haben wir massiven Zulauf. Im Vorstand sind da jetzt 60 Prozent neue Mitglieder.

Was sind das für Menschen, die im Osten den Grünen beitreten?
Unter anderem viele Jüngere, die zum Studieren oder für den ersten Job weg waren. Die kehren jetzt zurück, weil sie Bock haben, in ihrer Heimat was Neues aufzubauen.

Bundesweit haben die Grünen die SPD abgehängt und kommen in Umfragen auf mehr als 20 Prozent. Erwächst daraus eine neue Verantwortung für Ihre Partei?
Auf jeden Fall. Viele Menschen wählen uns mit dem Gedanken, dass sich etwas verändern muss. Dieser Erwartungshaltung – dass wir das Land und Europa voranbringen – müssen wir gerecht werden.

Sie führen die deutschen Grünen in die Europawahl und bewerben sich auch um die Spitzenkandidatur der europäischen Grünen. Was wollen Sie gegen den Vormarsch der Rechtspopulisten tun?
Da müssen sich alle Parteien reinhängen. Wichtig ist eine klare Abgrenzung nach Rechtsaußen. CDU und CSU tappen zu oft in die Falle, aus Angst vor der AfD nur noch über Flüchtlinge zu reden und nach rechts zu driften. Es gibt aber auch andere sehr zentrale Themen, die die Leute umtreiben. Wir müssen den Menschen eine Orientierung geben, wo es mit dieser Gesellschaft und in Europa hingehen soll – und nicht ständig rechtsnationalen Parteien hinterherrennen.

Das Interview führten Cordula Eubel und Albrecht Meier

Zur Person: Ska Keller (die eigentlich Franziska heißt) wurde 1981 in Guben geboren. Mit 20 Jahren trat sie den Grünen bei, mit 26 wurde sie Landesvorsitzende in Brandenburg. Keller gehört in der Partei dem linken Flügel an. Keller hat in Berlin und Istanbul Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik studiert, die 36-Jährige spricht mehrere Sprachen fließend. Seit 2009 ist sie im Europaparlament, 2016 hat sie die Führung der europäischen Grünenfraktion übernommen. In Leipzig nominierte ihre Partei sie auf Listenplatz 1 für die Europawahl. Am Wochenende bewirbt sie sich für die europaweite Spitzenkandidatur der Grünen.

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