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Engagement an Brennpunktschulen: An der Seite der Lehrer

Lena Oehler ist eine von acht Fellows, die in Brandenburg Brennpunktschulen unterstützen. Sie gehört zum ersten Jahrgang der bundesweiten Bildungsinitiative Teach First.

Königs Wusterhausen - Lena Oehler gibt den Rhythmus vor. „Spitze, Hacke, stamp. Spitze, Hacke, stamp.“ Bei jedem englischen „stamp“ stampfen die Schüler laut auf dem Boden auf. „Rechts, hinten, rechts, wischen, hinten, seit“, ruft Lena Oehler und turnt vor dem Spiegel im Hortraum sechs Schülern den Linedance vor, den die zehnte Klasse zum Schuljahresabschluss aufführen soll. Es riecht nach sechster Stunde, nach Träumen, die noch keine Richtung haben, und nach der Frage, was das eigentlich bringen soll – Schule. Lena Oehler hat den Shania-Twain-Song und die Tanzschritte auf Youtube gefunden und damit offenbar den Geschmack der Zehntklässler der Oberschule „Dr. Hans Bredow“ in Königs Wusterhausen (Dahme-Spreewald) getroffen. Sie machen mit – damit hat Oehler, die mit ihren engen, dunklen Jeans und dem legeren schwarzen Strickpullover kaum heraussticht unten den Jugendlichen, schon viel erreicht.

Die 28-Jährige ist nur zehn, zwölf Jahre älter als die Schüler, die auf ihr Kommando hören sollen. Sie ist nah dran, das scheint zu helfen, und – wohl noch wichtiger als das Alter: Sie ist keine Lehrerin. Lena Oehler ist ein Fellow, ein Gefährte, Kumpel, Begleiter für zwei Jahre. Als eine von insgesamt acht Hochschulabsolventen unterschiedlichster Fachrichtungen gehört sie zum ersten Jahrgang der bundesweiten Bildungsinitiative Teach First, die seit diesem Schuljahr auch in Brandenburg Schulen unterstützen, die Unterstützung dringend brauchen. Schulen mit hohem Migrantenanteil und einer Schülerschaft, die zu Hause teils wenig Hilfe erfährt. „Echte Teilhabe!“ heißt das Programm in Brandenburg, für das die vier staatlichen Schulämter im Land je zwei Schulen benannt haben. In Potsdam wurden die Oberschule „Theodor Fontane“ in der Waldstadt und die Gesamtschule „Friedrich-Wilhelm-von-Steuben“ im Kirchsteigfeld ausgewählt.

Die Klasse nimmt den Rhythmus auf

Nach dem Gruppentraining geht Lena Oehler mit ihrem Team in die Aula, wo Lehrerin Anja Handschick, verantwortlich für das Wahlpflichtfach Darstellendes Spiel, mit dem Rest der Klasse wartet. Es wird unruhig, fast 30 Schüler im Raum, zwei Schülerinnen lümmeln demonstrativ desinteressiert in Sitzsäcken. Doch als Lena Oehler um Aufstellung bittet und ihr „Spitze, Hacke, stamp“ ruft, nimmt die Klasse gemeinsam den Rhythmus auf, kaum einer tanzt aus der Reihe. Auch zwei weitere Tänze, die sich zwei Lehrerinnen ausgedacht haben, werden geprobt. Danach wird abgestimmt, welcher Tanz zur Aufführung kommen soll. Die Schüler pappen rote Klebepunkte auf ein Plakat neben die Namen der Pädagoginnen. Das Voting ist eindeutig: neben Lena Oehlers Namen klebt schnell ein rotes Meer an Punkten.

„Wir Lehrer sind ja ein kleines Feindbild“, sagt Anja Handschick, die seit acht Jahren an der Oberschule unterrichtet. Sie sieht die junge Kollegin ohne Lehramtsstudium dennoch nicht als Konkurrentin, sondern als Hilfe. „Lena sehen sie nicht als Lehrerin, das ist ein großer Vorteil“, sagt Handschick. „Ihren Rat nehmen die Schüler anders an“, erklärt sie und ergänzt mit Blick auf ihr Fach Darstellendes Spiel: „Wenn man immer kreativ sein soll, ist man irgendwann ausgelaugt.“

Anfangs habe es eine gewisse Skepsis im Kollegium gegeben, räumt Rektor Erik Dorow ein. „Goldstaub“ nennt er Lena Oehler inzwischen. An seiner Schule sei das Programm ein „Erfolgsmodell“, die Hilfe willkommen. 203 Schüler hat die Oberschule, davon sind 20 Geflüchtete. Er hoffe sehr, dass seine Schule wieder einen Fellow bekommt, wenn der Einsatz von Lena Oehler nach zwei Jahren beendet ist.

Personalmangel an den Schulen in Brandenburg

In Brandenburg an die Schulen zu kommen, war für die von engagierten Hochschulabsolventen und Studenten gegründete Initiative Teach First zunächst schwierig. Während in Berlin bereits 2009 die ersten Fellows eingesetzt wurden, sollten in Brandenburg noch acht Jahre ins Land ziehen. Es gab Vorbehalte, seitens des Ministeriums, aber auch der Gewerkschaft GEW, ob die Nicht-Lehrer in der Lage sein können, im Schulalltag zu bestehen. Inzwischen hat sich die Lage geändert. Es gibt Flüchtlingskinder, Inklusion, immer mehr Anforderungen an Lehrer bei eklatantem Personalmangel. Der damalige Bildungsminister Günter Baaske (SPD) schloss schließlich im Vorjahr die Vereinbarung mit Teach First. Die Fellows sind dabei keine Ersatzlehrer, auch keine klassischen Seiteneinsteiger – auch wenn sich tatsächlich manche später entschieden haben, umzusatteln und Lehrer zu werden.

Für Lena Oehler kommt das nicht in Frage, sagt sie. Sie wohnt in Berlin, stammt aus Köln und hat in Würzburg und zuletzt an der Uni Potsdam Psychologie studiert. Mit Jugendlichen habe sie schon immer gerne gearbeitet, erzählt sie, früher in der Pfarrgemeinde oder als Betreuerin eines dreiwöchigen Camps für Hauptschüler. Schulpsychologin will sie wahrscheinlich werden. „Wie soll ich Lehrer, Eltern und Schüler beraten, wenn ich das System Schule nicht kenne?“, fragt sie und erklärt damit ihre Motivation, sich als Fellow beworben zu haben. Erfahrung sammeln für das künftige Berufsleben und der Gesellschaft, die einen selbst zum Bildungserfolg geführt hat, etwas zurückgeben – das ist der Grundgedanke der Initiative nach amerikanischem Vorbild. In Frage für das Programm kommen nur Top-Absolventen, die sich wie Lena Oehler schon früher in der Jugendarbeit engagiert haben. Bei den acht Brandenburger Fellows ist von Psychologie über Politikwissenschaften bis hin zu vergleichender Religionswissenschaft alles dabei. „Wir hatten in einem anderen Bundesland schon einen Absolventen der Luft- und Raumfahrttechnik. Der hat dann mit den Schülern Roboter im Unterricht gebastelt“, sagt Leonie Birkholz von Teach First. Denn die Fellows, die drei Monate lang intensiv auf ihren Einsatz vorbereitet und danach von einem Trainer begleitet und pädagogisch fortgebildet werden, sind auf kein Fach festgelegt, sie unterrichten nicht im klassischen Sinne, geben keine Noten. Sie bieten Zusatzangebote, für die den Lehrern die Zeit fehlt – und mangels Zeit auch die Kreativität.

Deutschkurse für Flüchtlingskinder

Nach einer Mittagspause steht Mathematik bei Eva Schmeier auf dem Stundenplan. Die Lehrerin arbeitet seit 18 Jahren an der Schule. Die Anforderungen seien nicht einfacher geworden. „Respektlosigkeit ohne Ende“, erlebe man inzwischen teilweise als Lehrer. „Wenn zu Hause keine Regeln eingehalten werden, dann verhalten sich die Schüler hier genauso“, erzählt sie. Viele Eltern hätten gar kein Interesse, was ihre Kinder machen – und machten gleichzeitig die Lehrer verantwortlich, wenn es nicht laufe. Sich zusätzlich intensiv um die Flüchtlingskinder kümmern – ohne Lena Oehler, sagt die Lehrerin, sei das nicht zu leisten.

Die 28-Jährige geht mit vier Schülern in einen anderen Raum. Mehsiye, Malika, Fatema und Elias kommen aus Afghanisatan, leben jeweils seit etwa zwei Jahren in Deutschland. An der Bredow-Oberschule gibt es wie an den meisten weiterführenden Schulen in Brandenburg keine separaten Willkommensklassen für Flüchtlinge. Die ausländischen Schüler werden in den Regelunterricht aufgenommen – teils ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. An Matheunterricht ist so erst einmal nicht zu denken, spätestens bei Textaufgaben steigen die Schülern aus. „Die scheitern dann an Wörtern wie Litfaßsäule“, erklärt Lena Oehler, die die vier afghanischen Schüler deshalb parallel zum Unterricht in Deutsch trainiert. Es geht los mit „Train your brain“, wie Lena Oehler es nennt. Die Schüler sollen Wörter im Duden finden, so ein Gespür für die richtige Schreibung entwickeln. „Herausziehen“, gibt Oehler vor. Wer entdeckt die Vokabel am schnellsten? Ein Punkt für Fatema. Dann geht es weiter. „Oberkörper“, sagt Lena Oehler, „Speise“, „Aal.“ Dann kommt die nächste Runde: Die Jugendlichen dürfen ihre Smartphones rausholen. Das zieht. Fellow Lena tippt auf dem Computer am Lehrerschreibtisch, auf dem elektronischen Whiteboard erscheint ein Spiel, an das die Schüler über ihr Handy gekoppelt sind. Je zwei Schüler bilden eine Gruppe. Sie sollen Synonyme finden. Für Wörter, mit denen manch deutscher Schüler Probleme haben dürfte. Welches Wort kann man für „Expedition“ noch sagen, lautet die Aufgabe. Die Schüler tippen auf ihren Handys. Es wird lauter, Getuschel. „Ihr seid ein bisschen durch, was ? Siebte Stunde“, sagt Lena Oehler. Das genügt, die Schüler machen wieder mit. Sie tritt freundlich auf, aber bestimmt. Die Schüler respektieren sie, das ist schnell zu spüren. Schließlich legt Lena Oehler der Vierergruppe einen langen Text vor . Es geht um Ernest Shackleton, den britischen Polarforscher. Die Schüler, so scheint es, verstehen erst einmal gar nichts. Gletscherspalte – was soll das bedeuten? Lena Oehler ermutigt sie, verlangt noch einmal Konzentration. Die Schüler sollen alle Wörter grün unterstreichen, die sie kennen. Am Ende leuchten alle vier Blätter grün – zur Überraschung der Zehntklässler. „Wir haben viele Wörter von ihr gelernt. Sie ist eine große Hilfe“, sagt die 17-jährige Malika, die ein Kopftuch trägt.

Programm soll erweitert werden

Noch mehr Schulen könnten die Hilfe gebrauchen, meint Antonio Piscopo, der bei Teach First für die Region Berlin-Brandenburg zuständig ist. Teach First würde gerne schon zum nächsten Schuljahr acht weitere Absolventen an Brandenburger Schulen bringen, die Gespräche mit dem Ministerium laufen. Noch im März soll es eine Entscheidung geben. Am Ende ist es eine Finanzierungsfrage. Die Gehälter der Fellows – mindestens 1850 Euro brutto im Monat – müssen die Bundesländer tragen. Sonstige Kosten, für Fortbildungen beispielsweise, trägt die Initiative, die sich durch Spenden finanziert.

Teach First möchte das Programm in Brandenburg gerne thematisch ausweiten und politische Bildung, Demokratieerziehung, auf die Agenda zu setzen. Cottbus, sagt Piscopo nach den Debatten der vergangenen Wochen um Integration und Toleranz in der Lausitzstadt, wäre so ein Ort, der Gefährten an Schulen sicher gut gebrauchen könnte.

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Hintergrund: Teach First

Teach First Deutschland (engl. „unterrichte zuerst“) ist eine gemeinnützige Initiative mit dem Ziel, die Chancengerechtigkeit im Bildungswesen zu verbessern. Dafür werden Hochschulabsolventen aller Studienrichtungen für zwei Jahre an Schulen als zusätzliche Kräfte tätig. Träger ist die Teach First Deutschland gemeinnützige GmbH mit Sitz in Berlin. Die Idee stammt von der US-Organisation Teach For America.

Berlin und Nordrhein-Westfalen waren die ersten Bundesländer, die die „Fellows“ genannten Absolventen eingesetzt haben. Inzwischen ist die Initiative auch in BrandenburgBaden-WürttembergHamburgHessenSchleswig-Holstein und Sachsen aktiv. 

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