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Linke-Fraktionschefin Kerstin Kaiser.

© dapd

Einzelfall-Dokumentation: Kerstin Kaiser (Linke, Fraktionschefin)

Der Wortlaut des Berichts der unabhängigen Expertenkommission zur Überprüfung der Abgeordneten des brandenburgischen Landtags zum Fall.

Frau Kerstin Kaiser wurde am 16. Juli 1960 in Stralsund geboren. Sie wuchs bis 1978 in der Kleinstadt Franzburg, im damaligen Bezirk Neubrandenburg auf, besuchte die Polytechnische sowie die Erweiterte Oberschule am Heimatort. Die 12. Klasse und das Abitur absolvierte sie an der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) in Halle, wo sie auf ein Auslandsstudium vorbereitet wurde. 1979 bis 1984 studierte sie die Russische Sprache und Literatur an der Philologischen Fakultät der Leningrader Staatlichen Universität und schloss als Diplomslawistin und Hochschullehrerin ab. Anschließend war sie als Lehrerin in der Sprachintensivausbildung für Russisch an der Parteihochschule beim ZK der SED in Kleinmachnow tätig. 1994 errang sie ein Bundestagsmandat, welches sie aufgrund der öffentlichen Debatten über ihre IM-Tätigkeit nicht annahm. Im September 1978, während Frau Kerstin Henschke (später Kaiser) an der ABF Halle studierte, nahm das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Kontakt zu ihr auf. Sie wurde von ihrem Lehrer der ABF, der gleichzeitig stellvertretender Schulleiter war, zu einem Gespräch gebeten. An dem Gespräch nahmen auch 2 Mitarbeiter des MfS teil. Frau Kerstin Kaiser hat nach eigener Aussage dieses Gespräch als Absicherung für ihr Auslandsstudium verstanden. Dem MfS sei es lediglich darum gegangen, einen Gesprächspartner unter den Auslandsstudenten zu finden. Obwohl Frau Kerstin Kaiser zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Inoffizielle Mitarbeiterin geworben war, berichtete sie in insgesamt 6 dokumentierten Gesprächen über politische Einstellungen, über soziales und persönliches Verhalten von Studenten aus ihrem Umfeld. Zur Erklärung für diese Berichterstattung an das MfS erklärt Frau Kerstin Kaiser: Die gegenseitigen Einschätzungen in ihrer Gruppe seien allgegenwärtig gewesen. In der FDJ-Gruppe wäre die offene, wechselseitige Einschätzung viel härter gewesen, als sie das in ihren Mitteilungen an das MfS dargestellt habe. Außerdem seien die Informationen zielgerichtet von Mitarbeitern der MfS abgefragt worden. Die Gruppe hätte von sich eine Elitevorstellung gehabt, was sich auch auf die Einhaltung von Verhaltensvorschriften und z. B. die Befolgung des Kleidungskodex ausgewirkt habe. Die strengen Maßstäbe seien dem Umstand geschuldet gewesen, dass sie das Auslandsstudium als Ehre empfunden hätten. Sie sei immer versucht gewesen, mit ihren Grundsätzen in Übereinstimmung zu bleiben und habe in dieser Zeit nur über offensichtliche Dinge berichtet. Tatsächlich finden sich in den MfS-Unterlagen von Frau Kerstin Kaiser aber Passagen, in denen sie beispielsweise im November 1978 über Kommilitonen berichtet, die in Klausuren abschreiben und „...desöfteren Dinge aus der BRD mit ins Internat...“ bringen. Noch vor ihrer Werbung als IM erhält Frau Kerstin Kaiser vom MfS 40,00 Mark „aufgrund der guten Zusammenarbeit“. Am 3. April 1979 verpflichtete sich Frau Kerstin Kaiser handschriftlich, als Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung des Verantwortungsbereiches (IMS) für das MfS tätig zu sein und unterzeichnete diese Erklärung mit ihrem damaligen Namen, Kerstin Henschke. Sie versicherte bei der Kontaktaufnahme mit dem MfS den Decknamen „Katrin“ zu verwenden. Insgesamt sind 27 Treffberichte der Führungsoffiziere, 8 Berichte nach mündlichen Informationen von IM „Katrin“, 1 handschriftlicher Bericht und 23 Tonbandabschriften (davon 13 mit Decknamen unterzeichnet) beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) aktenkundig. Noch in Halle berichtete Frau Kerstin Kaiser an das MfS über eine Kommilitonin, dass diese nicht ehrlich sei und im Unterricht die Aufzeichnungen des Freundes benutzt habe. Von der Kommission danach befragt, ob die von ihr erwähnten hohen moralischen Anforderungen sie nicht auch zu der Frage geführt hätten, inwieweit den Betroffenen durch ihre Berichte Schaden entstanden sein könnte, antwortet Frau Kerstin Kaiser, dass das nicht zu erwarten gewesen sei, da zu dieser Zeit alle Betroffenen schon ihre Studienzulassung gehabt hätten. Es sei um die Formung der sozialistischen Persönlichkeit gegangen. Diese Anforderungen seien für sie so wie Essen und Trinken gewesen. Sie habe in einer Realität gelebt, in der sie diese Vorstellung vom sozialistischen Menschenbild hatte. Frau Kerstin Kaiser betonte, dass sie dies als Erklärung verstehe, nicht als Entschuldigung. Während ihres Studiums in Leningrad arbeitete Frau Kerstin Kaiser kontinuierlich mit dem MfS zusammen. Die Treffverabredung durch das MfS erfolgte jeweils durch Anruf im Internat. Hierzu war ihr eine besondere Adresse genannt worden. Unter dieser hat sie sich immer nur mit einem Führungsoffizier getroffen. Sie berichtete mündlich oder sprach auf Tonband. Die Treffen fanden von März 1980 bis Mai 1984 statt, mit einer Unterbrechung von April bis September 1983 wegen Schwangerschaft und Geburt ihres ersten Kindes. Bis September 1982 gab es monatlich 1 bis 2 Treffen. Einige der von Frau Kerstin Kaiser gelieferten Berichte, insbesondere solche zu Nicht-DDR-Studenten, wurden nach Auskunft des BStU an den sowjetischen Geheimdienst KGB weitergeleitet. Frau Kerstin Kaiser berichtete darin über ihre Kommilitonen und Dozenten. Dabei gab sie Informationen und Einschätzungen zu politischen Haltungen, zum Verhältnis zur UdSSR, zu Westkontakten, Lerneinstellungen, Charakter, Beziehungen und Partnerschaften. Die Berichte haben teilweise denunziatorischen Charakter. Einige Berichte enthalten Aussagen wie diese: „Ich finde, daß [Name geschwärzt] in ihrem Verhalten sehr auffällig im negativen Sinn ist, … sie trägt sehr oft Nikis auf bloßer Haut…In ihrer politischen Haltung halte ich sie für unreif. …Sie tritt mitunter nicht so auf, wie man es von einem DDR-Studenten hier erwartet. … sie hat keinen gefestigten Standpunkt. Sie interessiert sich kaum für weltpolitische Probleme, ist auch nicht in der Lage, zu argumentieren. Sie [verhält sich] Sowjetbürgern gegenüber taktlos, kann sogar beleidigend werden und betont immer, das Deutsche ist besser.“ Unter anderem berichtete sie mehrfach, erstmals am 13. September 1981, über eine französische Studentin. Hierzu hatte sie einen Auftrag vom MfS erhalten. Diesen Auftrag wollte sie eigentlich nicht erfüllen, was auch aus einer Tonbandabschrift über ein Gespräch mit dem MfS-Führungsoffizier ersichtlich ist. Tatsächlich berichtete sie aber in der Folgezeit über diese französische Studentin Folgendes: „Ursprünglich hatte [Name geschwärzt] die Absicht gehabt, eine Wolgareise zu unternehmen, die durch gesperrte Gebiete ging. Sie äußerte sich aber in der Hinsicht, daß sie sich das in diesem Jahr noch nicht leisten könne, falls man sie erwischt, könne sie exmatrikuliert werden. Deshalb verschiebt sie diese Absicht auf das nächste Jahr.“ Außerdem berichtete IM „Katrin“, zu welchen Dozentinnen diese französische Studentin engen freundschaftlichen Kontakt pflegt. Vom 16. Februar 1982 gibt es noch einmal eine auf Tonband aufgenommene Information von IM „Katrin“ über die französische Studentin. Sie weist auf eine enge private Beziehung der Studentin mit einer Dozentin und auf ein zwischen beiden offenbar vereinbartes Betrugsmanöver während einer Prüfung in der Universität hin: “Am 6.1.82 kam es in der Prüfung Geschichte der russischen Sprache zu einem Zwischenfall, der ihre enge Beziehung zu der Dozentin [Name geschwärzt] offenbarte. Die Dozentin verließ den Raum, nachdem [Name geschwärzt] die Fragen erhalten [hat,] um ihr offensichtlich Gelegenheit zu geben, ihre vorbereiteten Antworten rauszusuchen. Dies tat [Name geschwärzt] auch. Nach kurzer Zeit kam die Dozentin zurück, nahm ihr die Prüfung ab, gab ihr die ausgezeichnete Note und verließ die Prüfung, so daß die anderen Studenten bei einem anderen Dozenten ablegen mußten.“ Dokumentiert ist eine Unterrichtung über diesen Sachverhalt an den sowjetischen Geheimdienst unter Bezugnahme auf die Feststellungen von IM „Katrin“. Ob diese denunziatorischen Berichte für die französische Studentin nachteilige Auswirkungen hatten, lässt sich aus den der Kommission vorliegenden Akten nicht ersehen. Frau Kerstin Kaiser hat des Weiteren über eine Kommilitonin berichtet, die sich gegenüber sowjetischen Bürgern taktlos verhalten haben solle. Dieses Verhalten war Frau Kerstin Kaiser zufolge in der Gruppe der Studenten öffentlich diskutiert und von allen als falsch empfunden worden. Bei ihrer Anhörung durch die Kommission betonte Frau Kerstin Kaiser mit Blick auf ihre Leningrader Kontakte zum MfS, sie habe keine Geheimnisse verraten und keine Spitzelrolle gespielt. Schließlich habe das verstärkte Drängen auf Berichte und das zielgerichtete Nachfragen zum Streit mit dem Führungsoffizier in Leningrad geführt. Aber sie hätte sich während des Auslandsstudiums durchaus verpflichtet gefühlt, auf die Einhaltung der Verhaltensweisen der Studentinnen in der Sowjetunion zu achten. Sie habe die Berichte des Führungsoffiziers abgezeichnet, sei aber verwundert gewesen, überhaupt darum gebeten worden zu sein. Ihre Informationstätigkeit sei einigen ihrer Kommilitonen durchaus bekannt gewesen, ebenso dass der Führungsoffizier der Vater einer Kommilitonin gewesen sei. Dieser habe an der Botschaft gearbeitet und sei allen bekannt gewesen. Die französische Studentin habe sicher nicht gewusst, dass Frau Kerstin Kaiser über sie berichtete. Die deutschen Kommilitonen hätten aber damit gerechnet, dass Disziplinarverletzungen gemeldet würden, wie etwa Fahrten ohne Visum, Treffen mit Verwandten usw. Aber auch der Handel mit Jeans und Heizkörpern usw. sollte unterbunden werden. Daran habe auch die sowjetische Seite ein Interesse gehabt. Sie habe keine Vorstellungen darüber gehabt, was die Staatssicherheit mit den Berichten mache. Ihrer damaligen Meinung nach ging es um die Absicherung des Auslandsstudiums. Als sie aber den Eindruck gewonnen hatte, dass es um verstärkte Überwachung ging, habe sie ihrem Führungsoffizier gegenüber zu erkennen gegeben, dass sie nicht weitermachen wolle. Sie habe versucht, sich den Kontakten möglichst zu entziehen, zum Beispiel durch Krankheit oder den Vorwand, dass ihr dazu die Zeit fehle. Daraufhin habe das MfS ihr klar bedeutet, dass sie unter diesen Umständen das Studium in Leningrad nicht abschließen könne und nach einem Heimataufenthalt nicht mehr hätte einreisen dürfen. In den Unterlagen finden sich Hinweise, in denen das MfS die „Treffdisziplin“ von Frau Kerstin Kaiser bemängelt. Dass sie mit Studienabbruch bedroht wurde, ist nicht vermerkt. Der Führungsoffizier hat jedoch am 20. Juni 1984 vermerkt, dass sich die Qualität der Informationen wieder deutlich verbessert hätte. Außerdem notierte er unter gleichem Datum: „Konspirationsverletzungen traten nicht auf. Hervorzuheben ist, daß die Aufträge von ‚Katrin’ stets erfüllt wurden und daß sie sich für die Treffs mit Notizen vorbereitete.“ Nach ihrer Rückkehr aus Leningrad war Frau Kerstin Kaiser als Lehrerin an der Parteihochschule beim ZK der SED in Kleinmachnow tätig. Wegen dieser Parteifunktion wurde die inoffizielle Zusammenarbeit mit ihr durch das MfS beendet. Trotz der Beendigung der inoffiziellen Zusammenarbeit durch das MfS unternahm Frau Kerstin Kaiser im November 1984 Initiativen zur erneuten Zusammenarbeit mit dem MfS. Sie rief mehrfach beim MfS an, sodass die Hauptabteilung II sich veranlasst sah, „...die Durchführung eines Gespräches vorzuschlagen, mit der Zielstellung, dem IM für die bisherige Arbeit zu danken, verbunden mit der Erklärung, daß die Verbindung zu ihm aufgrund der Tätigkeit an der Parteihochschule eingestellt wird.“ Über ihr Bemühen um eine weitere Zusammenarbeit mit dem MfS in Potsdam befragt, erklärte Frau Kerstin Kaiser, sie sei nach Abschluss ihres Studiums von ihren Kontaktleuten des MfS gefragt worden, ob sie zur weiteren Zusammenarbeit bereit sei, worauf sie ihre Bereitschaft erklärt habe. Damals habe sie allerdings nicht gewusst, dass eine IM-Tätigkeit nicht in einer Parteihochschule fortgesetzt werden könne. Daher fühlte sie sich verpflichtet, ihre weitere Zusammenarbeit dem MfS anzubieten.

Zusammenfassung: Frau Kerstin Kaiser, geb. Henschke, hat vom 27. November 1978 bis zum 22. Mai 1984 dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zum Teil detailliert über Studenten und Dozenten aus ihrem Umfeld in Halle und Leningrad berichtet. Ab April 1979 wurde sie als inoffizielle Mitarbeiterin beim MfS geführt. Zu dieser Zusammenarbeit hat sie sich durch eine handschriftliche Erklärung verpflichtet und hierbei den Decknamen „Katrin“ gewählt. Bereits vor der schriftlich niedergelegten Zusammenarbeit hatte sie dem MfS in mehreren Gesprächen über ihre Kommilitonen berichtet. Insgesamt sind 27 Treffberichte der Führungsoffiziere, 8 Berichte nach mündlichen Informationen von IM „Katrin“, 1 handschriftlicher Bericht und 23 Tonbandabschriften (davon 13 mit Decknamen unterzeichnet) beim BStU aktenkundig. Die Berichte enthalten teilweise diskreditierende und denunziatorische Informationen über Kommilitonen und Dozenten. Frau Kerstin Kaiser ist mit ihrer Tätigkeit für das MfS nach 1990 relativ offen umgegangen und bezieht auch auf ihrer Website dazu Stellung. In der Anhörung sagt sie allerdings, dass sie keine Geheimnisse verraten und keine Spitzeldienste geleistet habe und sie überdies aus Kontakten zu ehemaligen Kommilitonen wisse, dass vermutlich niemandem aufgrund ihrer Berichte Nachteile entstanden seien. Selbst als das MfS die Zusammenarbeit nach ihrer Rückkehr aus Leningrad beendet hatte, unternahm sie ausweislich eines Berichtes vom November 1984 Initiativen zur Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem MfS, die wegen ihrer Tätigkeit als Dozentin an der Parteihochschule der SED vom MfS aber nicht aufgegriffen wurde. Im Februar 1988 wurde die Akte geschlossen.

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