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Brandenburg: Der wohlfeile Geschichtskonsens Der 8. Mai, der Tag der

Befreiung, ist in Brandenburg fortan gesetzlicher Gedenktag. Der Landtag erinnerte in einer Feierstunde an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren. Die PNN dokumentieren die Rede des Potsdamer Historikers Martin Sabrow in Auszügen

Nichts an dieser Feierstunde ist so selbstverständlich, wie es uns heute scheinen mag. Es ist nicht selbstverständlich, an die 70. Wiederkehr der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs zu erinnern; es ist nicht selbstverständlich, sie als Tag der Befreiung zu feiern und von einem Tag des Segens zu sprechen, wie Herr Ministerpräsident Woidke es tat. (...)

Auf der Ereignisebene markiert der 30. April 1945 die Agonie des sogenannten Dritten Reiches. An diesem Tag war der nationalsozialistische Herrschaftsbereich auf kleine Inseln in Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Sachsen zusammengeschmolzen, wurde München besetzt, drohte die US-Armee von der Elbe her die Reste der deutschen Westfront zu zerschlagen und kämpften sich in der zerstörten Reichshauptstadt sowjetische Truppen vom Potsdamer Platz und von der Weidendammer Brücke zum Reichstag und zur Reichskanzlei vor. In den ersten Morgenstunden des 30. April zerstörte Generalfeldmarschall Keitel mit einem Funkspruch die letzte Hoffnung auf Entsatz, die Hitler und seine Entourage im Führerbunker unter der Voßstraße noch gehegt haben mochten, und beschleunigte damit die Selbstauflösung der Schaltzentrale der NS-Herrschaft. Am Nachmittag des 30. April beging Adolf Hitler im Bunker unter der Reichskanzlei in Berlin Selbstmord und ratifizierte auf diese Weise das Ende des „Dritten Reiches“ und seines Krieges, das über Teilkapitulationen am 2. Mai in Berlin (gegenüber der Roten Armee) und am 4. Mai bei Lüneburg (gegenüber der britischen Armee) in den beiden Gesamtkapitulationen des 7. und 8. Mai in Reims und Berlin-Karlshorst formell vollzogen wurde.

Am selben 30. April, an dem Millionen displaced persons durch das Land irrten, während sich in den von den Alliierten besetzten Gebieten bereits erste Verwaltungsstrukturen etablierten, befreite die Rote Armee etwa 3000 zurückgelassene Häftlinge im Konzentrationslager Ravensbrück. Zur selben Zeit trieb die SS Zehntausende Häftlinge in Todesmärschen von Bayern aus nach Süden, von Brandenburg aus nach Norden, um ihre Befreiung durch die Alliierten zu verhindern und diejenigen, die diese Tortur überlebten, an der Ostseeküste auf Schiffen zu deportieren oder durch eigene Flucht einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Am 30. April 1945 startete aber auch auf dem bei Moskau gelegenen Flugplatz Wnukowo die sogenannte Gruppe Ulbricht mit dem Auftrag, die Rote Armee bei der Wiederingangsetzung des öffentlichen Lebens zu unterstützen (...).

Dieser schicksalhafte 30. April 1945 war ein Montag, wir würden heute sagen: ein Brückentag – ein Brückentag allerdings, der die apokalyptische Sekunde zwischen dem nationalsozialistischen Grauen und der Geburt einer besseren Welt markierte. Alexander Kluge nannte den 30. April „den letzten Werktag des Dritten Reichs“, den brückenbildenden „Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann“. Diese teleologische Verkürzung ist gewiss problematisch. Sie übergeht die 40 Jahre einer deutschen und globalen Teilung, die eben nicht nur den geraden oder windungsreichen Weg nach Westen kannte. Der 30. April ist auch das Datum, das den zwölfjährigen Wettlauf zwischen europäischer Gesittung und deutscher Barbarei durch eine 40-jährige Konkurrenz zwischen Ost und West, zwischen kommunistischer und liberaldemokratischer Ordnung der Welt ersetzte. Aber beide Wege öffneten sich an eben demselben Tag, an dem die pervertierte Denkwelt des Nationalsozialismus und seiner Utopie einer germanischen Moderne in der Apokalypse des von ihm verursachten Grauens zugrunde ging. Der 30. April lässt sich als der Tag verstehen, an dem die nationalsozialistische Volksgemeinschaft sich auflöste und der Führermythos zerstob, als habe es ihn nie gegeben; der Tag, an dem der Tod des verführerischen Diktators eine gähnende Leere hinterließ (...).

In jedem Fall stehen die Tage zwischen dem 30. April und dem 8. Mai 1945 in dieser Sicht als die große Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts vor uns und als jene vielzitierte und von den Zeitgenossen vielbeschworene Stunde null, die auf dem Weg der Re-education hier und der antifaschistischen Umwälzung dort die staatliche Kapitulation zur gesellschaftlichen Lossagung vom nationalsozialistischen Verderben werden ließ. Wir wissen heute, dass diese Sicht ebenso richtig ist wie falsch. Besser gesagt: Sie ist unvollständig. Denn sie bezeichnet den entschiedenen und umfassenden Bruch mit dem alten Regime und seiner Ideologie, der das Ende des Zweiten vom Ende des Ersten Weltkrieg unterscheidet. Aber sie blendet die vielen Verknüpfungslinien aus, die die NS-Herrschaft mit der Nachkriegszeit verbinden: der rasche Abbruch einer ohnedies unvollkommenen Entnazifizierung in beiden deutschen Gesellschaften, die Persilschein-Mentalität der Selbstentschuldung und die Projektion der unheilvollen Traditionen von hier Totalitarismus und dort Faschismus auf den jeweils anderen Teilstaat; die Kontinuität antidemokratischer, antipluraler, auch antisemitischer Denktraditionen und die spiegelbildliche Ausgrenzung breiter Strömungen des Widerstands; die verletzende Borniertheit gegenüber vielen Opfergruppen, die larmoyante Selbstviktimisierung und die fehlende Bereitschaft zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Ursachen der nationalsozialistischen Herrschaftseroberung und ihrer Steigerung zu Gegnervernichtung und Weltkrieg, zu Völkermord und Holocaust.

Das Datum des Kriegsendes hatte es schwer, sich im Erinnerungshaushalt der Deutschen festzusetzen. Lange bedeutete es nicht den befreienden Aufbruch aus dem Kerker der Gewaltherrschaft, sondern das Ende der „Deutschen Katastrophe“ im Sinne von Friedrich Meinecke und die individuelle Leiderfahrung, die die Zeitgenossen als Ende der Ordnung, als Verlust ihrer Existenz, als hilflos erfahrene Misshandlung erlebt hatten, woran auch die akademische Geschichtswissenschaft nicht rühren mochte (...). Lange regierte ein „leeres und kaltes Vergessen“, wie Theodor Adorno 1959 feststellte. Den 8. Mai betrachtete Bundeskanzler Ludwig Erhard noch 1965 lediglich als einen Tag, „so grau und trostlos wie so viele vor oder auch nach ihm“, während er in der DDR 1950 wie in Frankreich oder der Sowjetunion (dort 9. Mai) einen „höheren formalen Stellenwert“ besaß und zum staatlichen Feiertag erhoben wurde, aber als „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom faschistischen Joch durch die Sowjetarmee“ ganz im Dienst einer antifaschistischen Staatsdoktrin stand, die das Ende des Weltkriegs als Etappe auf dem Weg zum Sieg der sozialistischen Weltordnung verstand.

An der mühsamen Entwicklung des 8. Mai zu einem Tag des erinnernden Gedenkens lässt sich die Länge des Weges abschätzen, in der jene gewisse Stille der Nachkriegszeit, die Hermann Lübbe rückblickend konstatierte, sich in das Bekenntnis zur historischen Schuld verwandelt hat, das uns heute auch hier im brandenburgischen Landtag vereint. Über viele Jahre hinweg galt in der alten Bundesrepublik nicht der Untergang im Mai 1945, sondern der Wiederaufstieg seit dem Juni 1948 als Ausgangsdatum der neuen Zeitrechnung: „Nicht ,nach der Befreiung‘, sondern nach der Währung begann das neue Kalendarium“, umriss Peter Rühmkorf noch 1972 die Bewusstseinslage der Westdeutschen, die sich im Zwiespalt von positivem und negativem Gedanken gefangen fühlten. (...)

Das schwierige Datum wurde in der Bundesrepublik zu einem „Tag der Amnesie und der Amnestie“, zu dem Datum nämlich, zu dem nach dem Ende einer ersten Phase der juristischen Aufarbeitung jeweils zum 8. Mai die Verfolgung von NS-Tätern erst 1955 auf vorsätzliche Tötungsdelikte und dann 1960 auf Mord beschränkt wurden. Die erste Rede eines Bundespräsidenten und die erste Sondersitzung des Deutschen Bundestags zu einem Jahrestag des Kriegsendes fanden 1970 zum 25-jährigen Jubiläum statt, und sie bewegten sich in einem metaphorischen Rededuktus, der moralische Selbstviktimisierung an die Stelle historischer Erklärung setzte, wie etwa Gustav Heinemann in einer Erklärung vor dem Diplomatischen Korps am 6. Mai 1970 veranschaulichte: „Wir hatten ungezählte dunkle Stunden zu ertragen, ehe die verbrecherische Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten von uns genommen wurde.“

Dass der Tag des Weltkriegsendes in der frühen Bundesrepublik anders als der 17. Juni und der Volkstrauertag nicht in den Symbolrang der „Feiertage und Tage der Besinnung“ erhoben wurde, hing freilich auch mit der entgegengesetzten Entwicklung in der DDR zusammen. Dort wurde die symbolpolitische Besetzung des 8. Mai bereits 1949 mit der Einweihung des Treptower Ehrenmals und 1960 der Neuen Wache in Berlin inszeniert und bis zum Ende des SED-Staates mit öffentlichkeitswirksamen Gedenkveranstaltungen und Kranzniederlegungen untermauert. Staatliches Schweigen hüben und staatliches Gedenken drüben aber trafen sich bis in die 80er-Jahre in ihrer gemeinsamen Distanz zur historischen Erfahrungsrealität. Während im Westen die Metaphorik des dunklen Verhängnisses alle Fragen konkreter Verantwortung und individueller Täterschaft zudeckte, blendete der heroische Duktus der staatlichen Befreiungsrhetorik in der DDR die Schrecken und Gräuel der Zivilbevölkerung bei der Eroberung Deutschlands aus und externalisierte die Schuld der vielen kleinen Nazis, die ganz auf den anderen deutschen Staat und seine Regierung in Bonn abgeschoben wurde.

Während sich diese zunehmend steriler werdende Konfiguration der staatlich beherrschten Geschichtskultur im SED-Staat bis zu dessen Ende nicht mehr änderte, geriet der bundesdeutsche Umgang mit dem schwierigen Datum in den 80er-Jahren endgültig in erhebliche Bewegung. Wohl brachte Bundestagspräsident Philipp Jenninger die Ambivalenz des Datums in der Bundesrepublik zum 40. Jahrestag 1985 im Bundestag noch einmal auf die Formel: „Der 8. Mai 1945 wird in uns Deutschen immer widersprüchliche Empfindungen wecken.“ Doch der nach ihm sprechende Bundespräsident Richard von Weizsäcker entschied den Zwiespalt von Vernichtung und Erlösung, von Kapitulation und Befreiung mit seiner Gedenkrede, die berühmt wurde, weil sie den Zeitgeist so sehr traf, indem sie den 8. Mai zu einem Datum erklärte, „das für alle Deutschen verbindlich ist“, und verlangte: „Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.“ Diese Wahrheit bestand für Weizsäcker nicht allein darin, die militärische Kapitulation als Befreiung zu bezeichnen (...), sondern vor allem in der Klarheit, mit der er den 8. Mai 1945 als Folge des 30. Januar 1933 hinstellte; in der prononcierten Opferzentrierung samt einem dezidierten Akzentwechsel von den deutschen Opfern zu den Opfern der Deutschen, die er in ihren einzelnen Gruppen differenzierte; und zugleich in der Unverstelltheit, in der er eine niemals abschließbare Auseinandersetzung mit der Last der Vergangenheit einforderte: „Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.“

Weitere 30 Jahre später können wir sagen, dass das nunmehr vereinigte Deutschland diesem Anspruch in bemerkenswertem Maße gerecht zu werden versucht hat. Zwar ist der 8. Mai trotz vereinzelter Initiativen 1990 nicht zum Nationalfeiertag der vereinten Deutschen geworden, sondern stand auch damals in der öffentlichen Meinung weit hinter der Konkurrenz zwischen dem 9. November und dem letztlich gewählten 3. Oktober zurück. Aber die insoweit vereinigten Anstrengungen von Fachwissenschaft, öffentlicher Erinnerungskultur und Geschichtspolitik haben Schlussstrichforderungen ebenso aus dem Bereich des Sagbaren verbannt wie verklärende Bemühungen um eine positive Identifikation mit der deutschen Nationalgeschichte. (...)

Selbst ein lange vergessener, wenn nicht verfemter Hitler-Attentäter wie Johann Georg Elser ist mittlerweile zum Spielfilmthema geworden und überstrahlt als meterhohe Stahlsilhouette die einstige Berliner Regierungszentrale in der Wilhelmstraße; an der Bundesautobahn 7 wirbt heute eine „touristische Unterrichtungstafel“ mit der Aufschrift „Heimat von Georg Elser“ um einen Besuch in dem beschaulichen Ort Königsbronn an der Ostalb, finanziert von eben dem schwäbischen Heimatort, der seinen mutigen Sohn über viele Jahrzehnte hinweg schamhaft verschwiegen hatte.

Auch die Bundesregierung hat sich im aktuellen Koalitionsvertrag dazu bekannt, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und obersten Bundesbehörden weiter voranzutreiben. Die andauernde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, das Bekenntnis zur deutschen Schuld und zur generationenübergreifenden Verantwortung, die Empathie für die Opfer und das entschlossene Vorgehen gegen jede Vergangenheitsvertuschung sind in den vergangenen 35 Jahren zu immer wieder herausgeforderten, aber im Ganzen doch erstaunlich festen Fundamenten des deutschen Geschichtsdiskurses geworden, und sie haben im Bemühen, die Wiederholung einer „zweiten Schuld“ zu verhindern, wie dies Ralph Giordano nannte, nach 1989/90 auch den Umgang mit der zweiten deutschen Diktatur geprägt. (...)

Wer gegen die Maximen des „Nie wieder“ und der Opferempathie verstößt, stellt sich außerhalb der Grenzen des öffentlich Sagbaren und des gesellschaftlich Duldbaren. In einem Wort: Die Bundesrepublik der Gegenwart lebt in einem kathartischen Geschichtsbild, dessen Fluchtpunkt nicht mehr der Stolz auf die eigene Vergangenheit ist, sondern die Genugtuung über die Emanzipation von ihr und die Aufarbeitung ihrer Irrwege.

Viel wurde erreicht, und viel wurde auch in Brandenburg erreicht. Das Land hat mit beispielgebende Vergangenheitsarbeit geleistet und gefördert – mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und mit zahlreichen Initiativen und Kommissionen, Gedenkstätten und Lernorten zur zeithistorischen Aufarbeitung sowohl der NS-Herrschaft wie der SED-Diktatur und jüngst einer Enquetekommission zum Stand der DDR-Aufarbeitung im Bundesmaßstab. Und es wird dies auch weiterhin tun. Können wir also 70 Jahre danach zufrieden sein? Ich meine: nein. Vielmehr ist eine ernüchternde Feststellung am Platz: Unser vergangenheitskritischer Geschichtskonsens ist wohlfeil geworden. Er kostet nichts mehr, und im selben Maße, in dem er zum selbstverständlichen Fundament unserer politischen Kultur wurde, hat er auch sein aufrüttelndes Potenzial eingebüßt. Die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit verlangt uns nichts mehr ab, weil sie uns selbst nicht mehr einschließt, sondern höchstens in unserem Bessersein bestätigt. Im beruhigenden Glauben, aus der Geschichte gelernt zu haben, handeln wir in Wahrheit wie alle Generationen vor uns, die mit dem Blick auf die Vergangenheit Bestätigung für ihr Selbstverständnis in der Gegenwart bezogen. Das Projekt der historischen Aufklärung ist zur Realität einer historischen Affirmation geworden, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und womöglich unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern immer wieder vertraute Bilder reproduziert und ritualisiert.

Längst ist der Schrecken der nahen Vergangenheit kommensurabel geworden und hat der Geschichtstourismus sich nach den historischen Idyllen auch der Schattenorte der Geschichte bemächtigt; längst dienen die Schauplätze des Grauens gleichermaßen dem historischen Lernen wie als wirtschaftliche Standortfaktoren und Alleinstellungsmerkmale des Stadtmarketings. (...)

Doch nicht so sehr die kulturelle Trivialisierung unseres kathartischen, auf Brechung und Distanzierung angelegten Geschichtsbildes selbst muss uns besorgt machen, sondern die falsche Sicherheit, in der sie uns wiegt. Die wachsende Zahl von Mahnmälern und Gedenkstätten, die Zunahme von Stolpersteinen und Gedenktagen macht uns ehrlich gegenüber der verübten Unmenschlichkeit der Vergangenheit, wie Richard von Weizsäcker 1985 forderte. Aber macht sie uns auch stärker gegenüber der drohenden Unmenschlichkeit in der Gegenwart?

Nur wenige Pegida-Demonstranten dieser Monate schöpfen aus dem ideologischen Arsenal des Faschismus, und ihre Kandidatin für die Dresdner Oberbürgermeisterwahl erklärt im Brustton der Überzeugung: „Wir sind alle keine Nazis, keine Rechtsradikalen. Wir sind Patrioten.“ Der „Front national“ in Frankreich kann sich empört von seinem Gründer distanzieren, weil der die Gaskammern von Auschwitz für eine Marginalie hält, und hat darum doch nichts von seiner Bedrohlichkeit für die offene Gesellschaft und ihre Werte eingebüßt. Die sich in diesen Monaten so erschreckend stark artikulierende Abwehr von Fremden und Flüchtlingen, die Ausbreitung rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Einstellungen, sie sind weitgehend immun gegen die Anstrengungen der historischen Aufarbeitung, weil sie nicht gegen, sondern mit unserem Geschichtskonsens zu arbeiten vorgeben, weil ihre Protagonisten sich als moderne Patrioten verstehen und nicht als ewiggestrige Altnazis.

Das Wissen um die Irrwege der deutschen Geschichte schützt wenig vor den Bedrohungen unserer politischen Gegenwartskultur. Gegen die Brandsätze von Tröglitz hilft das Wissen nicht, dass an derselben Stelle vor 70 Jahren der KZ-Häftling Imre Kertész gelitten hat. Dieser Befund macht das Projekt der erinnernden und gedenkenden Aufarbeitung nicht überflüssig, in das wir in den vergangenen Jahrzehnten gerade in Deutschland, aber längst auch im europäischen Ausland so viel investiert haben. Wir müssen an der gegen so viel Abwehr und Ausweichen erreichten Intensität der Auseinandersetzung mit unserer furchtbaren Vergangenheit festhalten – aus Respekt vor den Opfern, aus Respekt vor der Wahrheit, aus Respekt vor uns selbst. Aber sie sollte uns nicht in dem fatalen Glauben wiegen, dass es damit getan sei – die Aufarbeitung der belasteten Vergangenheit sichert noch nicht den Weg in eine unbelastete Zukunft.

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