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Wo war ich, und wenn ja wie lange? Robin van H. war aus einer holländischen Grenzstadt geflohen und wollte in Berlin neu anfangen. Am Donnerstag saß er vor dem Amtsgericht.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Brandenburg: Der Verlaufene

Er kam in Berlin an als unbekannter Junge, der im Wald gelebt hat. Doch alles war eine Lüge – geboren offenbar aus Verzweiflung. Nun musste Ray, der eigentlich Robin aus Holland ist, sich vor Gericht verantworten. Und wurde nicht verurteilt

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Auf dem Schulfoto schauen vierzig Jugendliche in die Kamera. Viele lächeln offen, manche schüchtern. Vorne in der ersten Reihe sitzt Robin van H., der als Einziger nicht zum Fotografen schaut, sondern zur Seite. Er senkt den Kopf, als wolle er sich wegducken. Als würde er sich fremd fühlen inmitten der Klassenkameraden. Doch warum hat er sich dann nicht in eine hintere Reihe gestellt, wo er weniger aufgefallen wäre? Die Frage führt mitten hinein in das Leben eines jungen Mannes aus Hengelo in Holland.

Vor zwei Jahren tauchte er in Berlin vor dem Roten Rathaus auf und erzählte der Polizei, er komme aus dem Wald. Behauptete, er habe dort mit seinem Vater gelebt, wisse nur sein Geburtsdatum, aber weder den Familiennamen noch wo er geboren wurde. Seine Mutter sei tödlich verunglückt, er kenne nur ihren Namen: Doreen. Nun sei auch sein Vater gestorben. Im Sterben habe er ihm geraten, nach Norden zu gehen, in die große Stadt. Dem Rat sei er gefolgt, den Vater habe er im Wald begraben.

Obwohl viele an der Geschichte zweifelten, machte sie „Ray, den Waldjungen“ über Nacht berühmt: Medien aus aller Welt berichteten darüber, er selbst scheute die Öffentlichkeit. Um ihn zu schützen, wurde der angeblich 17-Jährige in einer betreuten Wohngemeinschaft untergebracht. Neun Monate lang.

Dann stellte sich heraus: Er hatte alles erfunden. Ray aus dem Wald war in Wahrheit Robin aus Holland, ein 19-Jähriger, der irgendwo von vorne anfangen wollte. Doch warum erzählte er eine so spektakuläre Geschichte, wenn er sich doch eigentlich unsichtbar machen wollte?

Donnerstag, 9.30 Uhr, Amtsgericht Tiergarten, Saal B137. 50 Kameramänner, Fotografen und Reporter rangeln um die beste Sicht. Da huscht Robin van H. mit seinem Anwalt an ihnen vorbei. Die blonden Haare hat er schwarz gefärbt, hätte er nicht den Kopf unter dem hochgezogenen Kragen des schwarzen Regenmantels versteckt, die Journalisten hätten ihn nicht erkannt. Die Kameraleute dürfen ihn noch einmal ablichten, wie er dasitzt mit dem Rücken zu den Zuschauern und dem Gesicht zur Richterin: blass, Ringe unter den Augen. Dann wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Man wolle verhindern, dass er stigmatisiert und seine Entwicklung gestört werde, sagt die Richterin. Auch dürfe der „erzieherische Wert“ des Prozesses nicht dem Unterhaltungswert geopfert werden.

Angeklagt ist er wegen Betrugs. Weil er in der betreuten Wohnung versorgt wurde. Die Kosten dafür will der Bezirk Tempelhof-Schöneberg zurückhaben. Es geht um knapp 30 000 Euro.

Die Wohnung lag im Süden Berlins. Dort war er vor der Öffentlichkeit sicher. Robin hatte ein Zimmer für sich, Küche und Bad teilte er sich mit anderen Jugendlichen. „Robin van H. wirkte überhaupt nicht wie einer, der auf den Busch klopfen und sich in den Mittelpunkt stellen will“, erinnert sich sein Betreuer. Er sei eher ein zurückhaltender, freundlicher junger Mann gewesen, der ganz gut Englisch sprach. „Er verstand sich gut mit den anderen Jugendlichen, zockte mit ihnen am Computer, lernte Deutsch und bewegte sich draußen eher vorsichtig.“

Anderen jungen Leuten wäre so ein Leben zu eng. Aber Robin van H., sagt der Betreuer, wirkte wie jemand, der Rückzug und Ruhe nötig hat.

Energie brachte er nur auf, wenn er seine neue Identität verteidigen musste. Neun Monate lang hielt er fest an seiner Geschichte. Seine Mitbewohner hatten ihre Zweifel. Der Junge aus dem Wald? Robin war geübt in Computerspielen und moderner Kommunikationstechnik. „Wer fünf Jahre im Wald gelebt hat, kann darin eigentlich nicht so firm sein“, sagt sein Betreuer, „aber letztlich hatte ja jeder hier seine eigene Geschichte. Außerdem war es nicht unsere Aufgabe, herauszufinden, ob seine Geschichte stimmte.“

Jenen, die diese Aufgabe hatten, waren die Hände gebunden. „Wir wollten ein Foto des Jungen veröffentlichen, um seine Identität zu klären“, sagt ein Polizeisprecher. „Aber der Junge stimmte dem nicht zu, und eine richterliche Genehmigung dafür erhielten wir nicht.“

Als sein angeblicher 18. Geburtstag heranrückte, verstärkte das Jugendamt den Druck auf Robin, der Veröffentlichung des Fotos zuzustimmen. Der junge Mann sträubte sich, fand aber keine glaubwürdigen Argumente mehr. „Er war danach anders als vorher“, sagt der Betreuer. „Nervös, gereizt, ängstlich.“ Dann ging alles sehr schnell. Mehrere Leute aus Hengelo identifizierten den Waldjungen als Robin van H., der bestritt seine Identität immer noch bei der Polizei: „Nein, nein, nein, ich bin Ray.“ Dann gab er doch auf.

„Wir haben es am Freitagmorgen erfahren“, sagt der Betreuer, „natürlich waren wir enttäuscht.“ Und auch Robin habe sich offenbar geschämt, sich eher halbherzig entschuldigt und gebeten, es seinen Mitbewohnern allein erklären zu können. Erklärt hat er es letztlich damit, dass er zu Hause in Hengelo „falsche Freunde“ habe, denen er entkommen wollte. Davon hat er dieser Zeitung auch drei Tage vor dem gestrigen Prozess am Telefon erzählt: „Das waren keine Freunde in Hengelo. Ich hatte da mal Probleme, und da sind sie einfach weggerannt.“

Hengelo liegt an der deutschen Grenze, hat 80 000 Einwohner, von denen viele in roten Backsteinhäusern wohnen. Robin van H. besuchte das Grundel Park College. Auf der Internetseite sind viele Videos von Schulfesten, Theateraufführungen und Schülerkonzerten zu sehen, auch unzählige Klassenfotos. Sie vermitteln den Eindruck einer intakten Schulgemeinschaft. Robin van H. machte bei der Schülerzeitung mit.

Er habe einen schweren Start ins Leben gehabt, erzählte ein Klassenkamerad dem englischen „Daily Telegraph“, eine Freundin sprach davon, dass er immer ein Geheimnis um seine Eltern machte.

Robin van H. war noch sehr klein, als die Mutter sich von seinem Vater trennte und mit ihm und seinem zwei Jahre älteren Bruder nach Portugal verschwand, wo sie sich offenbar wenig um die Kinder kümmerte. Der Vater hat die Kinder dann später zurückgeholt. „Zum Glück“, sagte Robin van H. am Telefon. „Es war die Hölle.“ Sein Bruder sei so krank gewesen, dass er in den Niederlanden erst einmal ins Krankenhaus musste.

Robins Vater ist im Februar 2012 mit 59 Jahren gestorben, da lebte sein Sohn schon als Ray in Berlin. Der Vater hatte sein Leben lang als Busfahrer gearbeitet. Ein früherer Kollege erzählt, dass es ihn viel Kraft gekostet habe, die Söhne aus Portugal zurückzuholen und sie alleine großzuziehen. Es habe viele Probleme gegeben. Als Busfahrer arbeite man im Schichtsystem, dadurch habe sich Robins Vater die Zeit flexibel einteilen können.

Doch Robin van H. erinnert sich an einen Vater, der nie Zeit hatte, immer weg war, immer gearbeitet hat. Heute habe er Respekt vor dem, was der Vater geleistet habe. Sein Tod, von dem er erst Wochen später erfuhr, traf ihn sehr. Vielleicht war das Verhältnis auch angespannt, weil der Vater eine neue Frau kennenlernte und sie kurz vor seinem Tod heiratet. „Nur weil sie meinen Vater geheiratet hat, ist sie noch lange nicht meine Stiefmutter“, sagt Robin van H. trotzig. Der Vater hatte jedenfalls nach dem verschwundenen Sohn gesucht, war sogar in einer Vermisstenshow im holländischen Fernsehen aufgetreten. Robin van H. wundert das: „Vorher haben sie mich jahrelang nicht angerufen, mein Vater und seine Freundin – warum haben sie sich denn nicht früher gekümmert?“, sagt er am Telefon.

Man kann das glauben oder nicht. Tatsache ist, dass Robin in den neun Monaten in der Berliner Wohngemeinschaft keine Sehnsucht nach Hengelo hatte. Möglicherweise hat er dort ein kleines Kind, ist bereits Vater. Womöglich hatte er auch Mietschulden. Aber muss man deshalb eine solch wahnsinnige Geschichte erfinden?

„Er hatte seine eigene Wahrheit“, sagt sein Betreuer in der Berliner Wohngemeinschaft. „Er hatte offenbar Gründe, seine eigene Wahrheit zu haben. Aber an die sind auch wir nicht rangekommen.“ Wer kommt da schon ran?

„Mit der Geschichte vom Leben im Wald hat Robin van H. seine eigene Tragödie inszeniert“, glaubt Michael Günter, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stuttgart. Als seine Mutter mit ihm nach Portugal ging, habe Robin van H. erlebt, dass man sich durch Flucht einer schwierigen Lebenssituation entziehen kann. Im Unterbewusstsein habe sich das womöglich eingeprägt. Die Mutter habe sich offenbar nicht um ihn gekümmert, er fühlte sich alleingelassen. Womöglich habe sich die Traumatisierung wiederholt, als ihn der Vater zurückholte, sich dann aber auch nicht so kümmern konnte, wie es sich der Junge gewünscht habe. „Die Flucht in den Wald mit dem Vater, der dann stirbt – diese Erzählung ist von der inneren Struktur her, von der Psychologik eine wahre Geschichte“, sagt der Jugendpsychiater. Es ist die Geschichte von dem Jungen, der flieht und dann doch wieder alleine ist.

Dieser Zeitung hatte Robin van H., der inzwischen gut Deutsch spricht und in Berlin bleiben will, vor Prozessbeginn gesagt: „Ich habe Mist gebaut, aber dazu stehe ich.“ Das Amtsgericht bescheinigte ihm eine positive Entwicklung und erlegte ihm 150 Stunden gemeinnützige Arbeit auf. Verurteilt hat es ihn nicht.

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