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Brandenburg: Der Bund der Vergessenden

Wer bleibt, was bleibt? Ein welthistorischer Blick auf Manfred Stolpe und den „Brandenburger Weg“ / Von Michael Wolffsohn

Der „Brandenburger Weg“ ist Weltgeschichte. Folglich haben Stolpe und „die“ Brandenburger seit 1990 Weltgeschichte geschrieben. Das Muster ist seit der Antike altbekannt: Ein Unrechtsregime wird gestürzt. Die große Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich (meistens, nicht immer) befreit, ruft „Nie wieder!“ und gestaltet tatsächlich ein menschliche(re)s, wenngleich kein paradiesisches Gemeinwesen.

Doch nicht alle Menschen fühlen sich befreit, denn jedes Unrechtsregime hat neben den Haupttätern seine Mittäter, Mitmacher und Mitläufer, also Profiteure. Diese wollten das „Ancien Régime“, sie konnten es nicht behalten. Sie klammerten sich an ihre alten Privilegien – und behielten sie im neuen „System“ (meistens).

Man denke (ganz unaufgeregt und entspannt, weil zeitlich und geografisch weit entfernt) an den Sturz der Tyrannen (um 500 v. Chr.) oder die Entmachtung der Oligarchen-Diktatur (um 400 v. Chr.) im Alten Athen. „Amnestie“, wörtlich „vergessen“, war die politische Losung der jeweils neuen Politik(er) und Gesellschaft. Diese Losung war die moralisch beklagenswerte und zugleich funktional notwendige Voraussetzung für die Lösung der Alltagsprobleme.

Chaos oder Vergangenheitsbewältigung – das war (und ist auch künftig) nach jedem Systemwechsel die Grundfrage, weil jede Ordnung eben Ordnung aufrechterhalten, die Sicherheit nach innen und außen gewähren, Wirtschaften ermöglichen, Ausbildung bieten, Recht sprechen und Verwaltung funktionieren lassen muss. Das Funktionieren des neuen Alltags ist zwar ohne die alten Spitzenfunktionäre möglich, doch nicht ohne die unteren alten Funktionseliten, -teile und -teilchen. Deshalb läutet gerade unmittelbar nach einem Systemwechsel den kleineren Mittätern, Mitläufern und Profiteuren nicht die Totenglocke, sondern ein neuer Weckruf. Sie sind zunächst unersetzbar. Das ist moralisch verwerflich, doch funktional unvermeidlich.

Moralisch ebenso unbefriedigend wie bei jenen Alten Griechen (und vielen anderen nach ihnen) gestaltete sich auch der Anfang des nach 1945 neuen (nicht „Neuen“) Deutschland: Das zeigten und brandmarkten Filme wie zum Beispiel „Rosen für den Staatsanwalt“, „Wir Wunderkinder“ oder „Die Mörder sind unter uns“. Letzteres galt für den deutschen Osten wie Westen.

Dass nach der Befreiung, der vermeintlichen Läuterung und politisch personellen „Reinigung“, „alter Dreck“ oben schwamm, beklagten, moralisch empört und überzeugend, namhafte deutsche Literaten, Kabarettisten, Journalisten, Historiker und andere Meinungsmacher oder-„führer“. Unter bundesdeutschem Weiß deckten sie viel Braunes auf. Und trotz der Alten Braunen entstand im deutschen Westen ein neues, demokratisches Deutschland, denn auch hier funktionierten die Gestrigen. Wie zuvor im Dritten Reich, passten sie sich den rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen an. Dieselben Menschen schufen ein anderes Deutschland.

Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass auch auf der scheinbar Weißen Weste jener (nicht nur Wessi-)Moralisten braune Flecken verborgen waren. Einige Beispiele seien genannt: Theodor Schieder, der „große Liberale Historiker“, Übervater und Förderer zahlreicher linker und linksliberaler Schüler, später namhafte Professoren, wurde als Nationalsozialist und hochideologisierter Rassist enttarnt. Dem Münchener Institut für Zeitgeschichte obliegt das Aufarbeiten der NS-Geschichte. Der langjährige Direktor dieses Hauses wurde, wie Schieder nach seinem Tod, als Mitglied der NSDAP enttarnt. Günter Grass, „die“ literarisch- „moralische Instanz“ des westlichen Deutschland, bekannte (nach Verleihung des Literatur-Nobelpreises) nach mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, in der Waffen-SS gedient zu haben. Ungefähr genau so „früh“ erfuhren die erstaunten Deutschen, dass demokratische West-Moralisten wie der Kabarettist Dieter Hildebrandt, der Schriftsteller Siegfried Lenz oder der Rede-Professor Walter Jens ebenfalls NSDAP-Mitglieder waren.

Ihnen wurde nach der ersten Aufregung sozusagen Absolution erteilt. War das moralisch konsequent?

Die amtliche DDR präsentierte sich als nazirein. Was viele ahnten und teils wussten, bestätigten Historiker und Journalisten nach der Wiedervereinigung: Man musste nur das Oberflächen-Rot etwas abkratzen, um auch in der DDR auf Braun zu stoßen. Auch im deutschen Osten bauten dieselben Menschen ein anderes Deutschland, weil sich die Rahmenbedingungen verändert hatten. Für Ost, wie West-Deutschland galt der weise (?) Satz von Uralt-Bundeskanzler Adenauer: „Nehmen sie die Menschen wie sie sind. Andere gibt’s nicht.“ In allen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Bildungsschichten, Parteien und Parteiungen gab es diese und jene, aber eben keine „anderen“. Und obwohl es keine „anderen“ gab, vollbrachten diese und jene, die „Guten“ und „Bösen“, gemeinsam ein Wunder: das Wunder der bundesdeutschen Demokratie, einerseits die „Bonner Republik“ und andererseits die DDR. Nicht die Menschen hatten sich ge- oder verändert, sondern die grundlegenden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Dieselben Menschen wie „vorher“ schufen „nachher“ im selben Land ein jeweils ganz anderes Land.

Von den Westdeutschen wissen wir, demoskopisch belegt, dass sie mehrheitlich ungefähr zwei Jahrzehnte geradezu nostalgisch auf die scheinbar gute alte NS-Zeit zurückblickten. Dass es „den Deutschen“ zwischen 1933 und 1939 „besser ging“ als je zuvor und danach in Deutschland, meinten noch bis in die Mitte der 1960er Jahre die meisten Bundesdeutschen. Sie behaupteten auch, dass „die Idee“ des Nationalsozialismus, nicht aber dessen Ausführung „gut“ gewesen wäre. Die Historische Demoskopie, die Thomas Brechenmacher (Uni Potsdam) und ich entwickelt haben, beweist, ebenfalls empirisch, dass die NS-Nostalgie der im deutschen Osten noch länger währte und heftiger wirkte als im Westen.

Das Wahrnehmungs- und Meinungsmuster der ehemaligen DDR-Bürger im vereinten Deutschland ähnelt nach der Wiedervereinigung dem der frühen Westdeutschen frappierend, und zwar fast wörtlich und tendenziell. Mit einem Unterschied: Die Nostalgie gilt heute dem vermeintlich guten Sozialismus und nicht dem vermeintlich guten Nationalsozialismus.

Nebenbei: Ähnliche Ablauf-, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster sind heute und morgen nach dem Systemwechsel in der Arabischen Welt zu erwarten.

Mit dieser „Weltgeschichte (und -prognose) im Sauseschritt“ haben wir über den persönlichen und regionalen Tellerrand hinausgeblickt und können versuchen, vom Teller in die Suppe zu schauen. Wer hat sie uns eingebrockt? Nur Stolpe, „die“ Brandenburger, die SPD und die PDS/Linke? Mitnichten.

Über Stolpe und den „Brandenburger Weg“ ist eigentlich schon längst alles gesagt, nur nicht von jedem. Der Sachverhalt ist klar: Stolpe ist, ob IM oder nicht, wahrlich von der DDR-Geschichte belastet, ja, befleckt. Er ist nicht nur mitgelaufen, er hat (weshalb und wie auch immer) mitgemacht, und das Mitmachen ist als moralischer Maßstab gewichtiger als das Mitlaufen.

Wie nach 1945 konnten oder wollten nach 1989/90 die meisten politisch Führenden und (!) Geführten, Politik und Gesellschaft, nicht auf die Kleinen und Nicht-ganz-großen-Mitmacher verzichten. Wer Verzicht verlangte, wurde als Ruhestörer beiseite geschoben. Nach 1989/90 ebenso wie nach 1945.

Nach 1945 hatten sich die ehemaligen Mitmacher verstellt. Sie waren die ersten Wendehälse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nach 1989/90 stritten ihre funktionalen „Nachfolger“ ab, Schlimmes getan zu haben. Sie hatten, wie Stolpe, die Chuzpe, das einstige Mitmachen als gut, richtig und notwendig Gemachtes zu verkaufen. Dieser Scheinmoral gemäß ist es folgerichtig, dass sich die „Junge Welt“ dieser Tage für 28 gute DDR-Jahre bedankte.

Das Mehrheits-„Man“ in Politik, Medien und Gesellschaft brauchte auch Stolpe, weil man ihn und die alten Funktionsträger, wie nach anderen Umbrüchen der Weltgeschichte, für funktional unverzichtbar hielt. Jenes „Man“ gewährte ihm und seinesgleichen Vergessen („Amnestie“). Eben nicht nur SPD, PDS/Linke und Grüne, auch Politiker der Union: Helmut Kohl, „Kanzler der Einheit“ und wahrlich kein DDR-Nostalgiker, wollte Anfang der 1990er Jahre des inneren Friedens und Funktionierens wegen alle Stasiakten, nicht nur Stolpes, am liebsten beseitigt wissen. Die Brandenburger CDU koalierte (um den alten SED-Seilschaften wenigstens den direkten Zugang zu den "Fleischtöpfen" zu verwehren?) mit Landesvater Stolpe von 1999 bis 2002 und danach mit „seiner“ SPD bis 2009.

Hatte nicht auch Kohls Vorgänger, der heute hochgeehrte und hochbetagte, allseits bewunderte und vermeintlich „weise“ Helmut Schmidt, einst als Kanzler und ebenso seit 1989/90 als Altkanzler Manfed Stolpe hochgelobt? Hatte nicht, als Dritter im Kanzler-Bunde aus CDU und SPD, Gerhard Schröder Stolpe ins Bundeskabinett geholt? Stolpe war der Ost-Star, gleichermaßen toleriert und akzeptiert von den „Großen“ und „Kleinen Leuten“ der Republik. Diese verhalfen ihm bei Wahlen, ohne jeden Druck oder Zwang, zu „satten Mehrheiten“. Keiner schiebe nur „den“ Politikern oder den „Alten SED-Seilschaften“ die Schuld in die Schuhe. Auch die „Bourgeoisie“ erlag Stolpes (und übrigens auch Gregor Gysis) Charme und Chuzpe.

Joachim Gauck, einst DDR-Bürgerrechtler, wunderbarer, nimmermüder Lobredner der Freiheit, hat als Leiter der Stasi-Aufklärungsbehörde die Tätigkeit von Mitarbeitern jener berüchtigten DDR-„Firma“ geduldet; ebenfalls seine Amtsnachfolgerin, die wirklich wackere Marianne Birthler, die Jahre zuvor den Mut hatte, das Stolpe-Kabinett wegen dessen DDR-Verstrickungen unter Protest zu verlassen.

Wer warf „den ersten Stein?“ Keiner. Weder „die da oben“ noch „die da unten“. Wie einst in der Alt-Bundesrepublik vergingen im Vereinten Deutschland etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre, bis nicht nur mutige Einzelkämpfer moralisch zu Recht und zuerst „Steine warfen“. Das konnten und können in der Weltgeschichte stets nur diejenigen, welche entweder nie „im Glashaus“ saßen – Widerstandskämpfer und Bürgerrechtler – oder die Jüngeren, denen, jawohl, die „Gnade der späten Geburt“ zufiel.

Die Gegner der antik athenischen „Amnestie“ wurden von der Mehrheit ihrer Politik und Gesellschaft ebenso als Nörgler und Ruhestörer diffamiert, an den Rand gedrängt und kaltgestellt wie die überlebenden Widerstandskämpfer gegen Hitler und die DDR-Bürgerrechtler.

Bärbel Bohley hatte Stolpe & Co nach der Wiedervereinigung empfohlen, ganz einfach „mal eine Runde auszusetzen“. Stolpe & Co, die Weitermacher, aber siegen. Das ist die traurige „Lehre aus der Geschichte“, nicht nur der deutschen. Bärbel Bohley ist tot, doch ihre und anderer Widerständler Haltung unsterblich, denn als Damm gegen Barbarei, Diktatur und Terror sind sie auf Dauer Vor- und Leitbilder der Menschheit. Über den Tag hinaus wirkt nicht die Mehrheit der Menschen wie Manfred Stolpe, die Anpassung als „Aussöhnung“ tarnen.

Wer bleibt, was bleibt? Nicht die Mitmacher und Mitläufer, Anpasser und Angeber, nicht die Bestfunktionierenden und erst recht nicht die chuzpedicken, scheinheiligen Moralisierer, sondern die aufrechten und aufrichtigen Moralisten, deren Wort ihre Tat ist. Stets waren, sind und bleiben sie in der Minderheit, doch ohne ihr Licht gäbe es nur das Dunkel des angepasst mehrheitlich hingenommenen Unrechts und der Unmoral, hätten die Stolpes dieser Welt sogar ein gutes Gewissen und fühlten nicht einmal den Zwang, sich zu rechtfertigen.

Nach der weltlichen Geschichte sei der Kirchenmann Stolpe abschließend in die christliche versetzt, in die Zeit von Jesus: Hätte sich Stolpe für seinen Glauben kreuzigen lassen? Es gab bekanntlich nur einen Jesus und nicht viele, aber immer wieder doch einige Widerstandskämpfer. Jenen Jesus, den gekreuzigten Verlierer, können auch Nicht-Christen als Moralisten nicht übersehen, und nach der NS-Diktatur gelten zu Recht die hingerichteten Widerstandskämpfer als ethische Instanz, Vorbilder, nicht die Täter und Mittäter. In ihren Werten orientiert sich Menschheit doch an den politischen Verlierern, die letztlich moralische Sieger sind. In ihrem Handeln fallen die meisten Menschen allerdings um. Dann machen und laufen sie mit. Sie schwimmen im mitreißenden Jedermann-Strom und sind darin von anderen so wenig unterscheidbar wie ein Tropfen vom anderen. In diesem Jedermann-Strom schwimmen sie körperlich oben und moralisch ertrinken sie. Sie werden unsichtbar und vergessen. Dann fragt jedermann: „Stolpe? Wer?“

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