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Brandenburg: Den Toten Würde geben

Der Zweite Weltkrieg hat so viele Menschenleben gekostet, dass weiterhin jedes Jahr allein Zehntausende deutsche Gefallene gefunden werden. Manche lassen sich sogar noch identifizieren

Mit einem Metalldetektor fährt Joachim Kozlowski immer wieder über den Waldboden. Piept das Gerät, gräbt er etwas Erde um, nimmt sie in die Hand und zerbröselt sie zwischen den Fingern. Routiniert sichtet er seine Funde: eine Patronenhülse, menschliche Knochen, immer wieder Knöpfe einer Wehrmachtsuniform, einen Kamm und auch ein Portemonnaie – das Grabräuber allerdings schon zerfleddert haben.

Joachim Kozlowski ist Umbetter im Auftrag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Wenn er in den Wald fährt, tut er das in der Regel, um Weltkriegstote auszugraben und sie in ein ordentliches Grab zu überführen. Der Hinweis zu den Gebeinen, die Kozlowski nun ausgräbt, kam von einem Förster.

In den Wäldern rund um Halbe (Dahme-Spreewald) werden auch 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch regelmäßig Tote gefunden. Zehntausende kamen im April 1945 vor den Toren Berlins bei einer Kesselschlacht um. Die Rote Armee hatte damals einen Ring um einen Teil der deutschen Truppen gezogen. Anstatt zu kapitulieren setzten die Eingeschlossenen auf einen blutigen Ausbruch – auf Befehl von Hitler, der die drohende Niederlage nicht akzeptieren wollte.

Im Wald lassen sich frühere Schützengräben erahnen. Alle paar Meter liegen Zeugnisse des Krieges herum: ein Gewehrgurt, Uniformteile, alte Batterien. Tausende Tote werden noch im Boden vermutet. Viele wurden damals schnell irgendwo begraben. Bei Bauarbeiten in der Gegend werden oft Gebeine freigelegt. Neben Kozlowski wird dann der Kampfmittelräumdienst gerufen. Mitunter müssen erst Dutzende Granaten unschädlich gemacht werden, bevor der Umbetter an die Arbeit kann.

Kozlowski, Mitte 40, das Haar leicht ergraut, hat viel in Brandenburg zu tun, ist aber auch bundesweit tätig – von Lübeck bis zum Bodensee. Er macht viele Überstunden. „Ich will den Toten ihre Würde wiedergeben“, sagt er.

Den Angehörigen hilft es, wenn das Schicksal eines Vermissten geklärt ist und die Trauer einen Ort findet. Dazu muss der Tote aber erst einmal identifiziert werden. Findet sich eine lesbare Erkennungsmarke am Hals, ist das meist möglich. Ansonsten lässt sich die Identität manchmal über markante Verletzungen oder persönliche Gegenstände wie Eheringe klären. In vielen Fällen bleibt es aber dabei, dass auf dem Waldfriedhof Halbe – einer der größten Kriegsgräberstätten in Deutschland – auf der Grabplatte „Unbekannter Toter“ steht.

Einer, dem Kozlowski seine Würde wiedergeben konnte, ist Fredi Lungwitz. Dessen Sohn Rolf, Jahrgang 1940, hochgewachsen und schmal, sitzt in der Begegnungsstätte des Volksbundes in Halbe und blättert in Alben mit alten Familienfotos: Vater beim Fronturlaub, Vater im Lazarett, die Kinder mit der Mutter und bei Verwandten. Das Schicksal von Lungwitz soll für die Bildungsarbeit aufgearbeitet werden. „So dient all das Leid wenigstens noch einem guten Zweck“, sagt der Sohn.

Kozlowski fand die Gebeine des früheren Wehrmachtssoldaten Lungwitz im Sommer 2011 ebenfalls nach dem Hinweis eines Försters an einem Waldweg nahe der Autobahn Berlin-Dresden. Auf einer Erkennungsmarke las er „-70-l.A.K.12./.A. ... 181“ – ein Zeichen konnte er nicht entziffern. Zusammen mit einem Protokoll des Fundes brachte er die Marke in den Norden Berlins in einen riesigen Backsteinbau.

Die dort ansässige Bundesbehörde mit dem langen Namen Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) ist unter anderem für die Identifizierung von Kriegstoten zuständig. Sie verfügt über mehr als 300 Millionen Unterlagen, etwa zu Wehrmachtssoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, Kriegsgefangenen der West-Alliierten oder Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Mit einer Gesamtlänge von 56 Kilometern füllen Regale Raum um Raum. Es riecht nach altem Papier.

Mitarbeiter der Behörde reinigten die überbrachte Erkennungsmarke zunächst mit einem speziellen Verfahren. Anschließend konnten sie mit einer hochauflösenden Kamera den fehlenden Buchstaben entziffern: „R“. Damit hielten sie den Schlüssel in den Händen, um den Toten zu identifizieren. Robert Wöllmann aus der Unterlagenverwaltung übersetzt die Angaben der Marke: leichte Artilleriekolonne, 12. Batterie vom Artillerieregiment 181. „Jeder Soldat bekam die Erkennungsmarke von der Einheit zugeteilt, bei der er erstmalig einberufen wurde“, erklärt er. „Diese Marke behielt er in der Regel bis zum Kriegsende, was auch immer das bedeutete: Tod, Gefangenschaft, überlebt.“ Im Verzeichnis der Ur-Einheit sind Name, Geburtsdatum und -ort sowie die Heimatadresse verzeichnet. Ist der Name erst einmal ermittelt, lassen sich in einer Datenbank alle Fundstellen abfragen, an denen der Gesuchte auftaucht. Das können etwa Meldungen zu Verletzungen oder zu einem Wechsel der Einheit sein. Im Fall von Fredi Lungwitz spuckte der Computer rund ein Dutzend Quellen aus – sie müssen anschließend mühsam von Hand aus den Regalen gezogen werden.

Einberufen im Januar 1940 kam der Kanonier Lungwitz in Frankreich zum Einsatz, bevor er 1942 in die Sowjetunion ging. Dreimal wurde er den Akten zufolge verletzt. Im August 1944 verliert sich seine Spur nach einer schweren Verwundung zunächst in Lettland. Der letzte Feldpostbrief datiert auf April 1945 und wurde wohl bei Fürstenwalde, östlich von Berlin, aufgegeben. Danach heißt es nur noch: Gefallen in der Zeit zwischen dem 20. und 30. April 1945 bei Halbe.

Für Angehörige ist kaum etwas schlimmer als die Ungewissheit. Noch immer gelten mehr als eine Million Wehrmachtssoldaten als vermisst.

Wird einer von ihnen offiziell als Kriegstoter identifiziert, benachrichtigt die Deutsche Dienststelle – wenn auffindbar – die nächsten Angehörigen. Bei Fredi Lungwitz bekam die Tochter einen Brief, in dem stand, dass ihr Vater in Halbe begraben worden sei. Sie verständigte ihre beiden Brüder, obwohl sie sonst kaum mehr Kontakt zu ihnen hatte. Oftmals sind die Angehörigen jedoch unbekannt. Daher ruft der Volksbund dazu auf, sich zu melden, falls in der Familie jemand seit dem Krieg als vermisst gilt.

Rolf Lungwitz ist immer noch spürbar aufgewühlt, selbst wenn er sagt: „Was mir das hier jetzt gibt, das ist erstaunlich viel. Ich bin jetzt auch ruhiger geworden, auch innerlich.“ Zuvor hatte er vermutet, dass sein Vater weiter östlich gefallen sei, an der Oder bei der Schlacht um die Seelower Höhen. Gefunden hatte er dort jedoch nichts. Als die Nachricht dann kam, fuhr Lungwitz mit seiner Frau nach Halbe ans Grab. Noch vor dem 100. Geburtstag seines Vaters sorgte er dafür, dass dort eine Platte mit dessen Namen eingelassen wurde.

Jahr für Jahr gräbt Umbetter Kozlowski in Deutschland Hunderte Kriegstote aus. Es sind bei Weitem nicht nur Wehrmachtssoldaten und damit Täter, wie manche Kritiker seiner Arbeit behaupten. Auch Rotarmisten oder Zivilisten findet er. Das Gros der deutschen Toten wird indes gar nicht mehr hierzulande gefunden, sondern in Osteuropa.

Der Volksbund, der hauptsächlich für die Kriegsgräberstätten im Ausland zuständig ist, sorgt jährlich für mehr als 30 000 Umbettungen. Rund die Hälfte der Exhumierungen entfällt auf Russland. Die Ukraine und Weißrussland sind weitere Schwerpunktländer. Laut Volksbund haben die aktuellen politischen Spannungen die Arbeit bislang nicht beeinträchtigt. Nur auf der Krim und im Donbass in der Ostukraine werden derzeit wegen der unklaren und gefährlichen Lage keine Toten mehr gesucht.

Auch in diesem Jahr sind wieder ein Arbeitseinsatz deutscher und russischer Soldaten, Angehörigenreisen nach Russland und internationale Jugend-Workcamps geplant. Erstmals könnte auch ein gemeinsamer Einsatz mit der ukrainischen Armee auf den Weg gebracht werden.

Deutschland und Russland helfen einander. Hierzulande werden russische Kriegsgräber gepflegt – und in Russland deutsche. Die russische Botschaft in Berlin hat eine eigene Abteilung für Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit. Dort ist von einer positiven Entwicklung die Rede, weil versucht werde, auch den sowjetischen Kriegstoten ihre Namen wiederzugeben.

Regelmäßig trugen in den vergangenen Jahren deutsche und russische Soldaten kleine Särge mit den Gebeinen von Gefallenen zu Grabe. Die nächsten etwa 120 Einbettungen in Halbe sind am 29. April geplant, dem 70. Jahrestag des letzten Ausbruchsversuchs aus dem Kessel. Mit einem ökumenischen Gottesdienst soll dann an die schrecklichen Ereignisse erinnert werden. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) will sprechen. Erwartet werden mehr als 1000 Gäste, darunter Zeitzeugen und Angehörige. Rolf Lungwitz will auch kommen. Alles steht unter dem Motto, das sich am Waldfriedhof findet: „Die Toten mahnen, für den Frieden zu leben.“ Am 8. Mai soll im nahen Baruth auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof der toten Rotarmisten gedacht werden.

Nur etwa ein Drittel der seit 1992 exhumierten mehr als 830 000 deutschen Kriegstoten konnte identifiziert werden. Das liegt auch an Grabräubern. Militariasammler und -händler sind in Deutschland wie in Osteuropa unterwegs und nehmen den Gefallenen ihre Erkennungsmarken, Orden, Waffen und persönlichen Gegenstände weg. „Alles, was man zu Geld machen kann, wird auch zu Geld gemacht. Es ist ein Raubüberfall auf einen Toten“, schimpft Umbetter Kozlowski.

Mit der Marke rauben die Diebe den Toten in den allermeisten Fällen ihre Identität und damit auch ihre Würde. Und für die Angehörigen heißt das: Ihre Ungewissheit wird bleiben.

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