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Debatte: Land zwischen Oder und nirgendwo

Der „Brandenburger Weg“ ist kein Rückgriff auf die DDR – sondern auf preußische Traditionen

Von Metternich stammt das böse Wort, dass Italien nur ein geografischer Begriff sei. Von Brandenburg, meint der Preußen-Biograph Christopher Clark, lässt sich nicht einmal das behaupten. Das Kernland jenes Staates, der später unter dem Namen Preußen in die Geschichte eingehen sollte, besitzt weder natürliche Grenzen noch einen Zugang zum Meer oder nennt gar herausragende landschaftliche Schönheiten sein eigen. Die Böden sind sandig und die Bodenschätze vernachlässigenswert. Deshalb sind hochwertige landwirtschaftliche Produkte selten, und wo in anderen gesegneteren Landschaften aus dem natürlichen Reichtum Schlösser erwuchsen, baute der märkische Adel seine „Katen“ wie der alte Stechlin alias Theodor Fontane die bescheidenen Herrenhäuser der Mark liebevoll-ironisch nannte.

Umso erstaunlicher bleibt es, dass und wie jene Landstriche von etwa 40 000 Quadratkilometern rund um Berlin deutsche und europäische Geschichte gemacht haben. Wenn man das größte ostdeutsche Flächenland, das nach seiner Amputation durch die Siegermächte 1945 noch immer 30 000 Quadratkilometer umfasst, heute betrachtet, so fallen seine Kontinuitäten stärker auf als seine Wandlungen. Brandenburg ist nach wie vor ein dünn besiedeltes, vorwiegend agrarisch geprägtes Land, es ist ein Land ohne Mitte, dessen geografische Mitte – Berlin – eben nicht Brandenburg ist. Es verblüfft bis heute, dass ein Land am Rande des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, also weit weg von den römisch geprägten und mit natürlichem Reichtum gesegneten Landstrichen an Rhein, Main und Donau so wirkungsmächtig wurde. Der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels liegt in der Dynastie der Hohenzollern, jener Burggrafen von Nürnberg, die 1415 von Kaiser Sigismund Brandenburg als Dank für ihre Unterstützung seiner Bewerbung um die römische Königskrone erhielten. Es ist in einer Zeit, die alles von Strukturen und objektiven Faktoren erwartet, nicht sehr zeitgemäß festzustellen, dass brandenburgisch-preußische Geschichte im Guten wie im Schlechten von Persönlichkeiten gemacht wurde. Denn längst vor den Ikonen einer national-deutschen Geschichtsschreibung, dem Großen Kurfürsten, dem Soldatenkönig und dem großen Friedrich gab es in diesem Land kluge Herrscher, die zwischen Schweden, Polen und Habsburg, später zwischen Frankreich und Russland, aber auch zwischen dem katholischen Kaiser und dem neuen protestantischen Glauben balancieren mussten, die gezwungen waren, zwischen Optionen zu wählen, die sich zwischen den Fronten wiederfanden und daher die Qual der Wahl zwischen Bündnis, bewaffneter Neutralität und unabhängigem Handeln hatten.

Jene vorsichtig tastende Politik, die nach 1701 mit der Erhebung der brandenburgischen Kurfürsten zu preußischen Königen von dieser preußischen Dimension überschattet wurde, lebte später, nach 1989, im sogenannten Brandenburger Weg einer vorsichtigen Systemumstellung unter Mitnahme möglichst vieler wieder auf. Was damals oft belächelt wurde und Brandenburg im alten Westen den Vorwurf einer kleinen DDR einbrachte, war nichts weiter als die Rückkehr zu den brandenburgischen Traditionen vor ihrer preußischen Inanspruchnahme. Denn auch diesmal kam es darauf an, sich als Schwacher hindurchzulavieren zwischen sozialer Besitzstandswahrung und wirtschaftlicher Erneuerung. Nur dass jetzt an die Stelle des Kurfürsten Joachim, der selbst eher zögerlich protestantisch geworden war, im Schmalkaldischen Krieg zum katholischen Kaiser stand und seinen Untertanen keinen Glauben aufzwingen mochte, der ostdeutsche Kirchenmann Stolpe trat, der diese Tradition – bewusst oder unbewusst – fortsetzte, indem er den Bruch mit der DDR möglichst sanft vollzog, auch dort, wo die Falken einer schnellen Verwestlichung Entschiedenheit und Klarheit forderten, bei der Aufklärung der Stasi- Vergangenheit – der eigenen wie der kollektiven.

Denn am Ende war nur Brandenburg geblieben, nachdem Preußen erst im Reich aufgegangen und schließlich mit ihm untergegangen war. Es ist eines der erstaunlichsten Phänomene der Entwicklung nach 1945, wie gering die Anziehungskraft Preußens als deutscher Sehnsuchtsort und Fokus einer kollektiven Identität war.

Als nach 1989 das Land zwischen Oder und nirgendwo, wie es der Publizist Wolf Jobst Siedler genannt hat, neu erstand, blickte es nur auf wenige Jahre einer angefochtenen Selbstständigkeit zwischen 1945 und 1952 zurück. In der Weimarer Republik war es bloß preußische Provinz gewesen und erst nach 1947, dem Jahr von Preußens amtlichem Tod, selbstständig geworden, um danach für fast 40 Jahre erneut in die Bezirke Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus zu zerfallen.

Es hat später viel politischen Streit darum gegeben, welche Prägungen tiefer, nachdrücklicher waren, die historisch überkommenen oder die aus 40 Jahren DDR. Es ist eine ironische Volte, dass ausgerechnet ein bekennender Konservativer wie Jörg Schönbohm die Prägungen der DDR über die historisch tradierten stellte und alle möglichen Verwahrlosungserscheinungen der Entbürgerlichung im Arbeiter- und Bauernstaat anlastete. Doch gerade das ostelbische Brandenburg kannte wohl Rittergut-besitzenden Adel, aber kaum Bürger. Denn dass sich die Pfahl- und Ackerbürgerstädtchen nicht mit bürgerlichen Zentren wie Dresden, Leipzig, Erfurt oder selbst Weimar vergleichen ließen, macht die Kontinuität so offensichtlich. Das Bürgertum musste in Brandenburg nicht abgeschafft und vertrieben werden, es gab es einfach nicht, sieht man einmal vom verbürgerlichten „Etagenadel“ in Potsdam und einigen anderen Garnisonsstädten ab. Aus dem adeligen Grundbesitz wurden über die Zwischenstation der Bodenreform landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, und in wenigen industriellen Ballungszentren wie Rathenow, Eisenhüttenstadt, Schwedt oder Schwarzheide entstanden neue Industriearbeitsplätze. Doch dazwischen blieb das Land was es war, eine leere Fläche von Kiefern, Birken und Föhren bestanden und von ein paar Ackerbürgern, Kleinbauern und Landarbeitern dominiert. Damit aber hatte zu keiner Zeit nach 1989 eine bürgerliche Alternative wie in Sachsen oder Thüringen eine Chance – Brandenburg hatte keine bürgerliche Geschichte und also auch keine bürgerliche Tradition. Manfred Stolpe hat das, anders als die vielen ephemeren CDU-Führungen vor Schönbohm erkannt und zusammen mit seiner Sozialministerin Regine Hildebrandt einen sozialpaternalistischen Kurs gesteuert: vom Staat initiierte und zum Teil auch finanzierte Großprojekte und ein Netzwerk sozialer Wohltaten aus dem Bestand der DDR. Doch das war anders als viele meinten nicht die Wiederherstellung der DDR im Kleinen, sondern ein Rückgriff auf alte Brandenburger Traditionen, eingebettet in ein wenig preußische Folklore und institutionell abgesichert durch eine Verfassung, die mit ihrem umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte weitgehenden Staatszielbestimmungen und Formen der unmittelbaren Demokratie theoretisch weit über das Grundgesetz hinaus weist und zu Beginn von ihren Gegnern als „Weg in eine andere Republik“ beschrieben wurde.

Man hat sich vor allem im Westen der Republik, besonders nach dem Aufkommen der Stasi-Vorwürfe und dem Scheitern fast aller seiner Projekte vom Lausitzring über die Chipfabrik bis zum Cargolifter immer wieder gefragt, weshalb die SPD Stolpes von der Ampelkoalition über die absolute Mehrheit bis zur großen Koalition immer die dominierende Brandenburger Partei geblieben ist und teflongleich alle wirtschaftspolitischen Misserfolge des Ministerpräsidenten an ihr abperlten. Die Antwort liegt wieder einmal wie schon so oft in der brandenburgisch-preußischen Geschichte in Personen und nicht in Strukturen. Der ehemalige Konsistorialpräsident war alles in einem: konservativ und sozial, preußisch-pflichtbewusst, christlich, bodenständig mit DDR-Vergangenheit und zugleich offen genug, den zurückkehrenden Adel in seine Obhut zu nehmen. Neben der Figur Stolpe waren CDU und FDP als bürgerliche Gralshüter überflüssig, und das Ein-Punkt-Thema Stasi, das dem Bündnis 90 seine Anfangsberechtigung gab, interessierte immer weniger, je heftiger die sozialen Schmerzen wurden.

Erst mit Jörg Schönbohm fand sich für die CDU ein ebenso preußisch-konservatives Gesicht, mit dem man – in gehörigem Abstand zur SPD – Wähler gewinnen und Themen besetzen konnte. Doch auch ihm gelang es nicht, aus der alten Ost-CDU einen politischen Kampfverband zu formen. Zu unterschiedlich war die politische Sozialisation, zu unterschiedlich waren die Lebensläufe. Denn während einige noch den Sozialismus gelobt hatten, waren andere schon mit der verfallenden Staatsmacht der DDR aneinandergeraten. Und so verbarg sich hinter der persönlichen Auseinandersetzung um Illoyalität und angeblich rechtswidrig kontrolliertem E-Mail-Verkehr auch eine kulturelle Differenz zwischen den Anhängern des Brandenburger Weges und den westlich oder bürgerrechtlich geprägten Christdemokraten, die tiefer ging, als es der Anlass des Streites ahnen ließ und die bis heute fortwirkt. Und nur der General aus dem Westen mit den Brandenburger Wurzeln vermochte es wenigstens, eine Zeit lang diese kulturelle Differenz mit konservativer Kantigkeit zu überdecken.

Der heutige Ministerpräsident Matthias Platzeck ist eine jüngere, leicht modernisierte Ausgabe des Erfolgsmodells Stolpe, eine Mischung aus sozialem Engagement, Bürgerbewegtheit und DDR-Erbe. Denn nicht Programm und Inhalte zählen in Brandenburg, sondern ob jemand das Lebensgefühl der Mark – Beharren, Skepsis und ein bisschen Wunderglauben – verkörpern kann, und das kann Platzeck wie keiner sonst.

In den letzten Jahren ist der Brandenburger Weg mehr Folklore als Realität. Zwar tauchen immer einmal wieder Abweichungen von anderen ostdeutschen Bundesländern auf, so bei den eher laxen Stasi-Überprüfungen im öffentlichen Dienst und hier besonders bei der Polizei, wozu auch der bisherige Verzicht auf einen Stasi-Beauftragten gehört oder die Art und Weise, wie die Brandenburger Verwaltung Bodenreformflächen für den Staat reklamierte, doch sind das letztlich eher Peanuts, die noch keinen deutlich unterscheidbaren Brandenburger Weg konstituieren, wozu, anders als in Bayern oder Baden-Württemberg die wirtschaftliche Kraft nicht ausreicht. Auch die Verfassung ist, soweit sie über das Grundgesetz hinausgeht, mehr ein Erinnerungsposten als gelebte Realität. Die Schwierigkeiten, die auf das Land zukommen, haben wenig oder nichts mit der DDR-Vergangenheit, dafür viel mit dem alten Brandenburg zu tun; sie liegen in der zunehmenden Entvölkerung der Berlin-fernen Gebiete.

Doch während der Große Kurfürst nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges das Land mit Hugenotten aus Frankreich „peuplieren“ konnte, ist der Trend heute unumkehrbar und macht es mittel- wie langfristig erforderlich, ein Land der zwei Geschwindigkeiten zu erfinden. Staatliche Vorsorge, aber auch individuelle Versorgung und medizinische Betreuung werden künftig in der Prignitz und in der Uckermark anders aussehen als im Speckgürtel um Berlin und Potsdam. Das war wohl auch der Grund, weshalb Platzeck die Union in der Koalition durch Die Linke ersetzte. Rot-Rot bewahrt die SPD davor, in stürmischer See ihre Stellung als Brandenburg-Partei an Die Linke zu verlieren. Während in Thüringen oder Sachsen eher Die Linke als die SPD die Repräsentantin der Mühseligen und Beladenen, der im Wiedervereinigungsprozess zu kurz Gekommenen ist, hat die Partei Stolpes, Hildebrandts und Platzecks trotz aller linken Wahlerfolge das Image einer Brandenburg-Partei bewahren können. Der konservative Charakter des Landes hilft auch hier, konservative und soziale Elemente zwanglos unter dem Dach einer eher linken Partei zu vereinen. Mag der Brandenburger Weg auch längst keinen realen wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund mehr haben, für die SPD bleibt er als symbolische Bezugsgröße ihrer Politik unverzichtbar.

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