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Einsam. Seit dem Verschwinden der Mutter lebt nur die Tochter hier.

© Rückeis

Brandenburg: Das Geheimnis der alten Dame

Vermisste 108-Jährige wurde jetzt für tot erklärt Tochter behauptet seit Jahren, sie sei in Österreich

Von Sandra Dassler

Berlin - Zu ihrem diesjährigen 108. Geburtstag bekam die Berlinerin Helene B. keine Blumen mehr vom Bezirksamt. Das Amtsgericht Spandau hat die seit 2008 als vermisst geltende Rentnerin, deren Fall einer der mysteriösesten in Berlin sein dürfte, inzwischen für tot erklären lassen. Dabei hatten die Beamten zuvor eisern durchgehalten: Jahr für Jahr brachten sie der Jubilarin den Strauß – zum 99., 100., 101. – kurzum: bis zum 106. Geburtstag stand alljährlich die Abordnung des Bezirksamts vor dem Tor, ohne aber Helene B. je anzutreffen. Die Blumen nahm immer Sonja W., ihre Tochter, entgegen, die im selben Haus wohnte und den Beamten stets mitteilte, dass ihre Mutter auf einer Reise nach Österreich sei. Beim 106. Geburtstag behauptete die zu diesem Zeitpunkt immerhin auch schon 81-jährige Tochter allerdings, dass Helene B. nicht allein nach Österreich gereist sei, sondern mit ihrem Ehemann. Da dieser aber schon 1977 gestorben war, wurden die Beamten stutzig und alarmierten die Polizei.

Seither gilt Helene B. als vermisst und ihr Fall als einer der mysteriösesten von Berlin. Wochen lang hatte die Polizei das Haus, das Grundstück sowie die Umgebung nach der Rentnerin abgesucht, die 1995 zum letzten Mal von Nachbarn gesehen und im Oktober 1996 zum letzten Mal von einem Arzt behandelt worden war.

Ihre Tochter behauptete weiterhin, dass ihre Mutter „illegal in Österreich“ sei. Weil sie – zumindest diesbezüglich – einen verwirrten Eindruck machte, kam sie in ärztliche Behandlung. Nachbarn erzählten den Ermittlern, dass Helene B. stets den Wunsch geäußert habe, in ihrem Garten beerdigt zu werden. Der Verdacht lag nahe, dass Sonja W. ihrer Mutter diesen Wunsch erfüllt hatte.

„Wir haben Leichensuchhunde eingesetzt und Luftbildaufnahmen gemacht“, sagt Ulrike Rohloff von der Vermisstenstelle des Landeskriminalamts. „Dort, wo die Erde auffällig aussah, haben wir gegraben, aber nichts gefunden.“ Mit aller Sorgfalt seien die Ermittlungen geführt worden, heißt es bei der Polizei. Helene B. kam in die bundesweite Vermisstenkartei, wurde – auch in Österreich – zur Fahndung ausgeschrieben. Vergeblich. „Einmal wurde eine unbekannte Tote gefunden, die Helene B. hätte sein können“, sagt Ulrike Rohloff. „Aber sie hatte ein künstliches Hüftgelenk mit einer registrierten Nummer, daher konnten wir sie als eine andere Person identifizieren.“

Da es weder eine Leiche noch Anhaltspunkte für ein Verbrechen gab, wurde gegen Tochter Sonja W. zu keiner Zeit ermittelt. Nach einigen Wochen entschieden die Ärzte, dass es keinen Grund gab, sie nicht in ihr Haus zurückkehren zu lassen.

Dort lebt sie seither, wie in den Jahren zuvor, völlig zurückgezogen, empfängt nie Besuch, geht selten aus dem Haus. An dem verschlossenen grünen Zaun gibt es weder Klingel noch Namensschild, die Jalousien der unteren, zur Straße gelegenen Fenster sind Tag und Nacht heruntergelassen, dichte Büsche verdecken Garten und Veranda. Es ist grün. Still. Friedlich. Fast fühlt man sich an Boo Radley aus Harper Lees Roman „Wer die Nachtigall stört“ erinnert, an jenen geheimnisvollen Mann, den seine Nachbarn in einer Kleinstadt Alabamas nie zu Gesicht bekamen, weil er es nicht wollte.

Auch Sonja W., die heute 83 Jahre alt ist, möchte nicht gestört werden. Manchen Nachbarn ist das fast peinlich, aber was sollen sie tun? „Ich wohne seit 30 Jahren hier“, sagt eine Frau, „aber alle Versuche, mit meiner Nachbarin ins Gespräch zu kommen, scheitern. Sie ist wie ein scheues Reh. Zieht sich sofort zurück, wenn sie merkt, dass jemand mit ihr in Kontakt treten möchte.“

Die Nachbarin klingt resigniert: „Frau W. könnte monatelang tot im Haus liegen, wir würden es nicht bemerken.“ Aus dem Bezirksamt Spandau heißt es, man habe über den Sozialdienst Kontakt zu Sonja W. aufgenommen und würde, falls erforderlich, Hilfe veranlassen. Die heute 83-Jährige soll bei bester Gesundheit sein. Wenn die alte Dame allerdings immer mal wieder von der Polizei nach dem Verbleib ihrer Mutter befragt wird, lautet die Antwort noch immer, diese sei in Österreich.

Helene B. rückwirkend zum 31.12. 2000 für tot erklären zu lassen hat auch nicht ihre Tochter, sondern die Deutsche Rentenversicherung (DRV) beantragt. „Die Rente wurde ab 2001 zurückgefordert, was anstandslos geschehen ist“, sagt DRV-Sprecher Karl-Heinz Klocke.

Sonja W. hat jedenfalls nichts von der Rente verbraucht, was dafür spricht, dass sie möglicherweise selbst daran glaubt, ihre Mutter sei in Österreich. Andernfalls wird die 83-Jährige das Geheimnis um das Grab ihrer Mutter wohl mit in ihr eigenes Grab nehmen. Sandra Dassler

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