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Corona in Gebärdensprache: Potsdamerin dolmetscht die Krise für Gehörlose

In anderen Ländern selbstverständlich, in Brandenburg ein Novum: Gebärdendolmetscherin Nadine Lehmann übersetzt bei den TV-Pressekonferenzen des Landes Coronainformationen für Gehörlose. 

Potsdam - Das neuartige Virus gebärdet sich gut. Nadine Lehmann ballt ihre linke Hand zur Faust. Die Finger der rechten spreizt sie über der Faust zum Fächer. Ihre Lippen formen ein O: „Corona“. Dann führt sie ihre Zeigefinger an die Schläfen, wie kleine Teufelshörnchen sieht das aus: „Virus“. Die Faust mit den gespreizten Fingern darüber deutet das kronenartige Aussehen des Virus ab. Gleichzeitig steht sie für Pandemie: Die Faust ist die Weltkugel, über die sich die Krankheit wie ein Netz spannt. 

Wie oft Nadine Lehmann in diesen Tagen diese Gebärde zeigt – sie weiß es nicht. Sehr, sehr oft jedenfalls. Die Potsdamerin ist staatliche geprüfte Gebärdendolmetscherin und derzeit regelmäßig im rbb-Fernsehen und im Livestream der Staatskanzlei zu sehen. Die 37-Jährige dolmetscht die Pressekonferenzen des Brandenburger Kabinetts zu den Coronaregeln für Gehörlose. Denn die lebenswichtigen Informationen – was ist verboten, wie kann man sich schützen, welche Lockerungen treten ab wann in Kraft – müssen auch diejenigen erreichen, die akustisch nicht verstehen können, was Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) und seine Kabinettskollegen beschlossen haben und verkünden. 

Deutschland hinkt hinterher

Eigentlich, sagt Nadine Lehmann, müssten auf Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention bereits seit 2009 alle wichtigen öffentlichen Verlautbarungen barrierefrei zugänglich sein. „Aber Deutschland hinkt da hinterher.“ Länder wie Schweden, die USA oder die Niederlande seien viel weiter. Dass Gebärdendolmetscher beispielsweise die Fernsehnachrichten übersetzen, sei dort normal. Erst mit der Coronakrise sei das Bewusstsein auch hierzulande gewachsen, dass Informationen auch für Gehörlose zugänglich sein müssen. „Ich hoffe sehr, dass das nach Corona nicht wieder in Vergessenheit gerät“, sagt Lehmann. 

Dolmetschen sei nur sinnvoll, wenn die Pressekonferenz live übertragen wird oder im Netz abrufbar ist, erklärt Vize-Regierungssprecher Simon Zunk. Vor Corona war das nicht üblich. „Sollten wir künftig auch andere Pressekonferenzen live übertragen, werden wir themenabhängig und bei entsprechender Relevanz gerne Gebärdendolmetscher einsetzen“, sagt Zunk.  

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Das hofft auch Uwe Schönfeld, denn selbst jetzt in der Krise seien die Angebote für Gehörlose noch nicht ausreichend. „Es wird zwar viel untertitelt, aber die Untertitel haben sehr oft eine Geschwindigkeit, die es schwer macht, zu folgen“, erklärt der zweite Vorsitzende des Landesverbandes der Gehörlosen mit Hauptsitz in Cottbus. 

Das Lesen sei bei vielen, insbesondere älteren Gehörlosen mit Schwierigkeiten verbunden, da ihre Gebärdensprache eine andere Grammatik besitze. In Brandenburg leben nach Angaben des Verbandes rund 2600 Gehörlose, die dieses Merkmal im Schwerbehindertenausweis stehen haben, also vor dem siebten Lebensjahr ertaubt sind. Die Zahl der Schwerhörigen im Land, die auf Gebärdensprache temporär angewiesen sind, wird auf 10.000 geschätzt.

Ihre Eltern sind gehörlos

Für sie ist Nadine Lehmann eine wichtige Mittlerin in der Krise. Lehmann, die selbst einen 14 Monate alten Sohn hat, wächst mit der Gebärdensprache auf. Sie ist ihre zweite Muttersprache, denn ihre Eltern sind taub. Bei Mutter wie Vater gab es Komplikationen bei der Geburt, die zu Schäden am Gehör führten. Sie habe trotzdem eine ganz normale Kindheit gehabt, sagt die 37-Jährige. 

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Und sie lernt von früh auf etwas, was viele nicht beherrschen: Bei Konflikten muss man einander ins Gesicht schauen, sonst gibt es keine Verständigung. Trotzdem, als sie älter wird, will sie erst einmal weg aus der Welt der Gehörlosen, wählt beruflich einen anderen Weg: Sie studiert Informatik für digitale Medien, gründet eine Firma. Aber auf Dauer ist das nicht das Richtige, sie beginnt nebenbei eine Ausbildung zur Gebärdendolmetscherin, legt in Darmstadt die Prüfung ab, um staatlich zugelassen zu werden. 

Maskenpflicht ist Bürde für Gehörlose

Im Pool des Landesverbandes sind rund 120 Gebärdensprachdolmetscher, Schriftdolmetscher und Kommunikationsassistenten registriert. Diese bringt die Coronakrise in Nöte. Nadine Lehmann kommt nun zwar bei den Pressekonferenzen zum Einsatz – dafür muss sich derzeit auf 80 bis 90 Prozent ihrer üblichen Aufträge verzichten. Normalerweise begleitet sie Gehörlose zu Ämtern, zum Arzt, zu Elternversammlungen oder auch mal zum Autokauf. Vieles davon fällt jetzt weg, weil Einrichtungen geschlossen sind oder Gehörlose sich nicht nach draußen trauen. Denn die Maskenpflicht macht ihnen das Leben noch schwerer. 

Zwar müssen sie selbst keine Maske tragen, aber Mitarbeiter in Geschäften sehen einem Kunden ja nicht an, ob er hört oder nicht, erklärt Lehmann. Sie werden dann schon mal zurechtgewiesen, warum sie keinen Schutz tragen – ohne sich selbst lautstark erklären zu können. Gleichzeitig fällt die Möglichkeit weg, anderen Menschen von den Lippen abzulesen. Manches lässt sich auf digitalem Weg lösen. Nadine Lehmann betreut auch einen Patienten im weißen Bereich des Potsdamer Bergmann-Klinikums. Besuchen darf sie ihn nicht, nach wie vor gilt wegen des Coronausbruchs im Klinikum ein Besuchsverbot. Per Videotelefonie hilft sie ihm, versucht seine Frage zu beantworten. „Das geht, so lange die Verbindung gut ist.“ 

Aber auch bei den Pressekonferenzen holpert es manchmal. Weil die Erfahrung fehlt. Beim ersten Termin stand Nadine Lehmann zunächst vor den Fahnen, die im Erdgeschoss der Staatskanzlei hängen – ein zu unruhiger Hintergrund, das lenkt die Zuhörer von ihren Lippen und Händen ab. Dann stand sie zu weit weg von Woidke, habe erst erklären müssen, wie sie am besten ins Bild gesetzt werden muss, damit die Zuschauer ihr auch folgen können. Und dann sind da die Sprechgewohnheiten mancher Politiker. „Woidke redet sehr langsam, macht lange Pausen bevor man ahnt, wie der Satz zu Ende gehen könnte, den er begonnen hat“, sagt Lehmann. Das ist nicht ganz einfach, denn die Redepause kann sie ja nicht mit Füllgesten überbrücken.

Die Haartolle steht für Trump 

Für weithin bekannte Politiker gibt es mittlerweile etablierte Gebärden. Bei Trump wird die Haartolle gezeigt, bei Angela Merkel mit der flachen Hand auf Kinnhöhe die Frisur angedeutet und für den Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder genügt an Deuten auf die Augenbrauen. Dolmetschen könnte sie eine Söder-Pressekonferenz aber nicht ohne Weiteres, außer der CSU-Politiker spräche lupenreines Hochdeutsch. Denn die Gebärdensprache unterscheidet sich nicht nur international, auch innerhalb Deutschlands gibt es Dialekte, unterschiedliche Gebärden und Mundbilder für ein und dasselbe Wort, erklärt Lehmann. 

Für Brandenburgs Politiker habe sie noch keine Gebärde, sagt Nadine Lehmann. Die Namen, auch lange wie Nonnemacher, zeigt sie noch mit dem Fingeralphabet. Aber wenn die Krise weiter anhält, könnten Namensgebärden nötig werden. Brandenburgs Ministerpräsidenten könnte man beispielsweise anhand seiner Körpergröße charakterisieren, meint Lehmann. Ein Fingerzeig für „den Langen“ und dann die Faust – auch ohne Worte wäre dann alles gesagt. 

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