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Ziel von Attacken: Kommunalpolitiker:innen im Potsdamer Stadtparlament.

© Andreas Klaer

Brandenburger Verfassungsschutz-Studie: Kommunalpolitiker werden fast täglich angepöbelt und attackiert

Innenminister Michael Stübgen (CDU) ließ Übergriffe auf kommunale Amts- und Mandatsträger in der Mark untersuchen. Das Ausmaß ist erschreckend groß. 

Einschüchterungen, Hetze und Gewalt: Angriffe gegen Kommunalpolitiker nehmen in der Mark deutlich zu. Im Land Brandenburg vergeht im Grunde kein Tag, ohne dass Stadtverordnete, Gemeindevertreter, Kreistagsabgeordnete, Amtsdirektoren, Landräte oder Bürgermeister wegen ihrer Tätigkeit attackiert werden, verbal mit Beleidigungen oder sogar tätlich. Das ist der alarmierende Befund einer Brandenburg-Studie zu Angriffen gegen Amts- und Mandatsträger auf kommunaler Ebene, die im Auftrag des Innenministeriums unter Federführung des Verfassungsschutzes erstellt und am Montag in Potsdam von Innenminister Michael Stübgen (CDU) und Verfassungsschutzchef Jörg Müller auf einer Pressekonferenz vorgestellt worden ist. "Die  Ergebnisse beunruhigen mich sehr. Es sind ungeheuerliche Zahlen", sagte Stübgen. "Als Mann finde ich es besonders beschämend, dass Frauen in der Kommunalpolitik häufiger und in anderer Qualität bedroht werden." Nötig sei dagegen "Null-Toleranz".  

Innenminister Stübgen: "Ungeheuerliche Zahlen"

Danach haben 35,5 Prozent der 7108 Amts- und Mandatsträger auf kommunaler Ebene seit 2014 mindestens einmal persönlich eine Beleidigung, Bedrohung, Sachbeschädigung oder Gewalt erlebt. "Körperliche Gewalt wurde in den untersuchten Jahren gegen hochgerechnet fast 300 Amts- oder Mandatspersonen im Land Brandenburg ausgeübt - häufiger als einmal alle zwei Wochen", heißt es. Das Ausmaß, das erstmals untersucht wurde, kommt nun ans Licht. 

Potsdam und Senftenberg für Kommunalpolitiker besonders gefährlich 

In den 14 Kreistagen und vier Stadtverordnetenversammlungen der kreisfreien Städte wie Potsdam ist die Betroffenquote mit 52 Prozent besonders hoch.  Die landesweiten Hochburgen solcher Angriffe sind demnach der Raum Potsdam (Postleitzahl 144..) und die Gegend um Senftenberg (Postleitzahl 019..) in der Lausitz. Am ruhigsten geht es noch in der Prignitz zu. Generell gilt, dass Kommunalpolitikerinnen häufiger Opfer solcher Attacken werden als ihre männlichen Kollegen, "oft mit sexistischem Hintergrund" so die Studie, "beispielsweise mit Vergewaltigungsdrohungen". 

Michael Stübgen, CDU-Innenminister in Brandenburg.
Michael Stübgen, CDU-Innenminister in Brandenburg.

© Soeren Stache / dpa

Stadt-Land-Gefälle: In den Dörfern gibt es weniger Übergriffe

Kern der Studie ist eine Umfrage unter allen 7108  Amts- und Mandatsträgern in  Gemeinden, Städten und Kreisen, an die postalisch ein Fragebogen gesandt worden war - 1500 hatten sich beteiligt und geantwortet. Mit dieser Rücklaufquote von 21,5 Prozent gelten die Ergebnisse als repräsentativ. Es seien "hochgradig belastbare quantitative Studienergebnisse", heißt es in dem 213-Seiten-Werk. Verfasser sind der Sozialwissenschaftler Prof. Joachim Klewes und die Politikwissenschaftlerin Christina Rauh von der Politikberatungsfirma Change Centre Consulting, deren Spezialgebiet gesellschaftlicher Wandel ist. 

AFD, Grüne, Linke und Freie Wähler sehen sich besonders betroffen     Auch die Details haben es in sich. So offenbart die Umfrage bei der Verrohung der politischen Kultur vor Ort ein eklatantes Stadt-Land-Gefälle in Brandenburg. "In den Großstädten über 20 000 Einwohnern finden sich mehr als drei Mal so viele Angriffe wie in Brandenburger Dörfern mit einer geringen Anonymität", heißt es.

Wer sich bei umstrittenen Themen wie Windkraft klar positioniert, wird häufiger als andere attackiert, ergibt die Studie.
Wer sich bei umstrittenen Themen wie Windkraft klar positioniert, wird häufiger als andere attackiert, ergibt die Studie.

© Andreas Klaer

In größeren Städten gibt es 49 Prozent von Übergriffen betroffene Lokalpolitiker oder Amtsträger, in Dörfern nur 16 Prozent. Ein Ergebnis ist auch, dass Kommunalpolitiker von AfD (69,8 %), Grünen (46,1 %), Linken (43,6 %) und der Freien Wähler (41,6 %) häufiger von Angriffen berichten, also über dem Durchschnitt von 35 Prozent liegen. Und eine Rolle spielt auch, dass laut Studie jene stärker zur Zielscheibe werden, die sich "deutlich für oder gegen Themen wie Windkraft, Asyl oder Extremismus" positionieren, also klare Kante zeigen. "Gesellschaftliche Polarisierungen spiegeln sich wie in einem Brennglas in der Kommunalpolitik wieder", sagte Christina Rauh, eine Autorin der Studie. In den letzten zwei Jahren sei es auch die Corona-Politik gewesen. "Und das Thema Flucht und Asyl wird jetzt durch den Ukraine-Krieg wieder deutlicher zutage treten." 

Kaum digitale Übergriffe - weil Kommunalpolitiker wenig Social Media nutzen 

Was es für Angriffe sind? Am häufigsten - ein Drittel - sind Beleidigungen erlebt worden. Von Bedrohungen, in einer Minderheit auch gegen Familienangehörige, berichten "jeder fünfte und jede fünfte Antwortende", heißt es.  Sachbeschädigungen nennen 14 Prozent und vier Prozent der Kommunalpolitiker gaben an, seit 2014 einmal oder mehrfach körperliche Gewalt erlebt zu haben. 

Angriffe in sozialen und digitalen Medien spielen dagegen weniger eine Rolle, was einen profanen Grund hat, für Brandenburg nicht untypisch: "Hauptursache ist die geringe Nutzung digitaler Kanäle bei den Antwortenden", heißt es. "Mehr als zwei Drittel kommen ohne jegliche aktive Nutzung von Social Media in ihrem Amt oder Mandat aus."  

Als "bemerkenswert" bezeichnet es die Studie, dass 44 Prozent der Befragten die Täterschaft der erlebten Attacken im kommunalpolitischen Raum selbst verorten, also "bei Angehörigen der eigenen oder von anderen Fraktionen  oder Parteien". 

"Faustkämpfe im Stadtparlament"

Klewes sagte, dass man von diesem Umfang selbst überrascht worden sei. Es sei sogar von "Faustkämpfen in Stadtverordnetenversammlungen" berichtet worden. 

Es müsse über die politische Debattenkultur in den Kreistagen gesprochen werden, mahnte Rauh. Nötig seien "Spielregeln, dass Beleidigungen nicht zum Berufsbild gehören." Ob es sich dabei tatsächlich um Beleidigungen handelte, ist allerdings nicht verifizierbar, da im kommunalpolitischen Streit von Akteuren Täter-Opfer-Grenzen fließend sind. 

Opfer schrecken vor Anzeigen zurück

Die Federführung der Studie hatte der Verfassungsschutz. Er ist in Brandenburg eine Abteilung des Innenministeriums und spielt neben der klassischen Geheimdiensttätigkeit als "Verfassungsschutz durch Aufklärung" traditionell eine stärkere präventive Rolle als in anderen Ländern.

Die Ergebnisse korrespondieren mit Studien auf Bundesebene zu Hasskriminialität und ergänzen zugleich die Befunde des "Brandenburg-Monitors" im Auftrag der Staatskanzlei, der seit Jahren ein schwindendes Vertrauen in Institutionen feststellt, besonders in Parteien, aber auch in Bundes- und Landespolitik. Ein Ergebnis des "Brandenburg-Monitors" war bisher, dass die Bevölkerung zum Bürgermeister, zum Rathaus, zur Gemeinde, zur Kommunalpolitik vergleichsweise noch das größte Vertrauen hat.

Jörg Müller, Leiter des Verfassungsschutzes in Brandenburg.
Jörg Müller, Leiter des Verfassungsschutzes in Brandenburg.

© Soeren Stache / dpa

Um so alarmierender ist der Befund jetzt, dass auch die Demokratie vor Ort zunehmend bedroht ist. Und zwar nicht nur, weil drei von vier Opfern auf eine Anzeige verzichteten, da das  - wie ergänzende Befragungen ergaben - aus ihrer Sicht sowieso nichts bringe, also nicht einmal politisch Engagierte Vertrauen in die Polizei haben. Die Studie spricht von "mangelndem Glauben an Strafverfolgung", den diese Zahl bestätigt: Bei Sachbeschädigungen wurden immerhin zwei Drittel angezeigt, offenbar für die Versicherungen, insgesamt 599 Fälle - es kam nur zu 17 Verurteilungen.  

Welche Konsequenzen zieht die Woidke-Regierung?  

Noch schwerer wiegen drohende Folgen für das persönliche Engagement von Lokalpolitikern und die Gesellschaft: Demnach erzählten "viele Angegriffene" von Überlegungen, das Amt aufzugeben (jeder Vierte bis jeder Fünfte) oder bei der nächsten Wahl  nicht mehr anzutreten (jeder Sechste). Nach der Umfrage registrieren 74 Prozent eine Zunahme der Politikverdrossenheit, und 64 Prozent sehen "die Leistungsfähigkeit der kommunalen Verwaltung beeinträchtigt", heißt es: "Ebenso viele befürchten, dass Beleidigungen, Bedrohungen,  Gewalt salonfähig werden." Ein Indiz sei, wenn sich Verwaltungsbeamte teilweise nicht mehr in Stadtverordnetenversammlungen trauen, sagte Rauh. 

Über 80 Prozent sehen "Übergriffe auf Amts- und Mandatspersonen als Problem, das mehr Aufmerksamkeit und systematisches Handeln erfordert".  Genau vor dieser Aufgabe, Brandenburg toleranter zu machen, stehen nun nicht allein Innenminister Michael Stübgen (CDU), sondern die gesamte Regierung unter Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD).  Stübgen kündigte schon einmal Seminare für Amts- und Mandatsträger und verwies auf die kaum bekannte Ansprechstelle für Betroffene bei der Polizei. Und Jens Graf, Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, mahnte: "Es ist nicht gelungen, Amts- und Mandatsträgern Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden zu vermitteln", sagte Graf. "Die Strafverfolgungsmöglichkeiten sollten ausgeweitet werden." Es gehe schließlich bei den Kommunalpolitikern "um das Gesicht des Staates vor Ort." Es gebe schon jetzt auch Hoffnungsschimmer, betonte Studienautor Klewes. So habe eine Führungspersönlichkeit auf Kommunalebene eindrucksvoll berichtet, zu den Absendern von Bedrohungen und Beleidigungen "einfach nach Hause" gefahren zu sein, denn: "Es ist nicht so einfach, jemanden in die Augen zu schauen und Arschloch zu sagen."         

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