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Kiez-Entdecker. StattReisen-Geschäftsführer Jörg Zintgraf in der Nähe seines Büros an der Liebenwalder Straße im Wedding. Sein Kredo lautet: „Geschichte muss ja nicht nur in Büchern und Ausstellungen stattfinden, sondern auch draußen.“

© Doris Spiekermann-Klaas

Brandenburg: Voll auf Berlin

Seit 35 Jahren bringt „StattReisen“ Berlinern ihre Stadt näher. Jörg Zintgraf ist mit Leidenschaft dabei.

Berlin - In Berlin kann man sein Leben lang auf Entdeckungsreise gehen. Warum also in die Ferne reisen? Das fragt auch er: Jörg Zintgraf, 57, Geschäftsführer von „StattReisen Berlin“. Der Name ist hier Programm: Eine Tour in Berlin mitmachen, statt in die große weite Welt reisen. „Es geht darum, die Stadt zu erleben, sie verstehen zu lernen und mit einem kritischen Blick auf sie zu schauen“, sagt Zintgraf. Die Stadtführungsagentur feiert am Wochenende Jubiläum: Seit 35 Jahren veranstaltet „StattReisen“ bereits thematische Führungen, anfangs in West-Berlin, seit der Wende in der ganzen Stadt.

Aber eher nicht zu touristischen Zwecken. „Wir sehen uns als Bildungsträger, haben sogar eine tourismuskritische Note und weisen darauf hin, was dieser in der Stadt anrichten kann“, sagt Zintgraf. Der Fokus liege auf Wissen, auf dem Verstehen von Zusammenhängen.

Wie das funktioniert, kann man am Wochenende bei 35 kostenlosen Jubiläumstouren erleben. Sie zeigen das breite Spektrum des alljährlichen Angebots von Kiez- bis zu literarischen und geschichtlichen Führungen. Die Grundidee? „Geschichte muss ja nicht nur in Büchern und Ausstellungen stattfinden, sondern auch draußen“, sagt Zintgraf. Und gerade in den Achtzigern habe das Projekt schon reichlich Stoff in Berlin vorgefunden: Stichwort Kahlschlagsanierung und Hausbesetzer-Szene. „StattReisen“ siedelte sich im Wedding an, die erste Tour wurde zum Klassiker: „Hallo Roter Wedding“ heißt sie und thematisierte ab 1983 den Wedding als Arbeiterviertel, die Zwanziger Jahre sowie den sogenannten „Blutmai“, als KPD-Aufstände 1929 brutal niedergeschlagen wurden.

Zintgraf ist seit 1994 dabei. In Erlangen hat er Geschichte, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Für seine Promotion ging er nach Berlin. Dann stieg er bei „StattReisen“ ein – und entschied sich ganz und gar fürs Metier des Stadtführers und gegen die Doktorarbeit. Berlin hat ihn gepackt. „Das ist unsere Leidenschaft.“ „StattReisen“ hat seinen Sitz in einem Büro im Erdgeschoss eines imposanten Wohnhauses in der Malplaquetstraße/Ecke Liebenwalder Straße. Das große Eckhaus ist hellbraun gestrichen, geht durch zwei geschwungene Türme in den Himmel über und ist an der Vorderseite von einem langen Balkon gesäumt. Oberhalb des Balkons an der Vorderseite ranken sich Verzierungen in der Hausfassade. Zwischen dem filigranen Stuck, eingeschlungen von steinernen Ranken und Blättern, steht: Karl Schrader Haus. „Wer wohnte wohl früher in diesem Gebäude?“, fragt Zintgraf. Reiche Industrielle? „Nein, Arbeiter.“

Jetzt ist Zintgraf in seinem Element. Er erzählt, dass das Haus 1906 eingeweiht und nach dem Gründer der Berliner Baugenossenschaft, Karl Schrader, benannt wurde. Dieser sah die damaligen Notlagen in der Stadt: Die vielen Mietskasernen waren eng, dunkel, die sanitären Verhältnisse prekär. Das denkmalgeschützte Karl-Schrader-Haus gehört zu den genossenschaftlichen Reformwohnungsbauten der Zeit, dort gab es schon damals individuelle Wohnungsschnitte, lichtdurchflutete Zimmer, großzügige Höfe, eine Badeanstalt im Hof und sogar einzelne eigene Badestuben. Der perfekte Platz für eine Agentur wie „StattReisen“.

Ungefähr hundert verschiedene Touren bietet das Unternehmen im Jahr an, jede zwei bis sechs Mal. Es gibt offene Spaziergänge, an denen Interessierte ohne Voranmeldung teilnehmen können. Und es gibt Gruppentouren. Ein Rundgang, den Schulklassen oft buchen, heißt: Konsum, Rausch, Abgründe. Nervenstränge der westlichen City. „Hier denken viele Schüler: Toll, da gehen wir nachher shoppen“, sagt Zintgraf. „Doch wir zeigen ihnen zuallererst einen Spritzenautomaten hinterm Zoo. Dort sehen die Schüler dann Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit. „Sie sind konfrontiert mit einer Welt, in der Menschen abgehängt sind. Das bleibt oftmals hängen.“

In den Regalen des StattReisen-Büros stehen Ordner mit orangefarbenen Schildern. Döblin, Fallada, Fontane, Kafka, Kästner in der oberen Reihe. Und weiter: Twain, Zille, Heine. Die Nachnamen auf den Ordnern markieren literarische Spaziergänge. Beispiel? Alfred Döblin. „Bei dieser Tour geht es nicht darum, zu zeigen wo Döblin gewohnt hat, sondern wie er hier gelebt hat und die Stadt wahrnahm“, sagt Jörg Zintgraf. Leitfaden ist Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“.

Stadtführer und Teilnehmer gehen den Roman gemeinsam durch, lesen Textpassagen, versuchen einen Perspektivenwechsel: Wie war es früher? Und wie ist es heute? Es geht um Fiktion und Realität. Eine spannende geschichtlich-politische Zeitreise ist auch die häufig gebuchte Führung „Olympia 1936 – Spiele mit dem Tod“ am Berliner Olympiastadion. „Wir zeigen hier nicht die Umkleidekabine von Hertha“, sagt Zintgraf und schmunzelt. „Es geht um die Nazi-Architektur, den Missbrauch der Olympischen Spiele, das NS-Menschenbild – zum Beispiel anhand der Statue des Diskuswerfers.“

Das eigene Jubiläum nimmt „StattReisen“ nun zum Anlass, um sich auch anderen Jahrestagen zu widmen: Dem 17. Juni 1953, dem Attentat auf Rudi Dutschke vor 50 Jahren, dem 200. Geburtstag von Karl Marx, der Märzrevolution in Berlin und vielem mehr. 35 Wege in die Stadt - unter diesem Motto wird das Jubiläum am Wochenende mit entsprechend vielen Gratis-Touren begangen. Um Spenden wird allerdings gebeten: Für das soziale Projekt „Schilleria“ in Neukölln, ein Treff für Mädchen und junge Frauen.

Alle Touren sowie die kostenlosen Jubiläumsführungen: www.stattreisenberlin.de

Anna Ehlebracht

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