zum Hauptinhalt
Ein junges Liebespaar Hand in Hand nahe dem brandenburgischen Müncheberg im Sonnenuntergang.

© dpa

Brandenburg: Verbotene Liebe einer 15-Jährigen: Was Josephines Eltern aus Sicht der Richter falsch machten

Vergangenes Jahr brannte die damals 14-jährige Schülerin Josephine mit ihrem 47 Jahre alten Onkel durch. Nun hat sie ihre Eltern vor dem Brandenburgischen Oberlandesgericht verklagt - mit Erfolg.

Von

Potsdam - Der Fall hatte deutschlandweit Schlagzeilen gemacht: Im Frühjahr 2015 war die damals 14-Jährige Josephine aus dem Brandenburger Landkreis Oberhavel durchgebrannt – aus Liebe zu ihrem damals 47-jährigen, zu der Zeit noch angeheirateten Onkel. Nach mehreren Wochen endete in Südfrankreich die Flucht, das Paar wurde entdeckt. Der Polizei sagte das Mädchen später, sie sei freiwillig mit dem Onkel gereist, weil sie mit ihm eine Liebesbeziehung habe. Zu Ende ist der Fall damit noch lange nicht. Josephine hat ihre Eltern erfolgreich vor dem Oberlandesgericht Brandenburg (OLG) verklagt.

Nach dem bereits Ende März 2016 gefassten, aber erst jetzt bekannt gewordenen Senatsbeschluss müssen Eltern es hinnehmen, wenn ihre Tochter im Teenager-Alter mit einem 30 Jahre älteren Mann zusammen ist. Ein Verbot der Beziehung könnte das Wohl des Kindes gefährden (Az.: 9 UF 132/15).

Debatte um Kinderehen: Anwaltverein machte Urteil publik

Publik wurde der Fall nun, nachdem die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht des Deutschen Anwaltvereins das Urteil auf ihrer Homepage veröffentlicht hatte. „Wir tun das öfter bei Themen, die wir für interessant halten und das ist dieser Fall zweifellos“, sagte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft und Berliner Anwältin Eva Becker am Mittwoch dem Tagesspiegel: „Es ist wichtig zu wissen, dass dem elterlichen Sorgerecht für Kinder auch Grenzen gesetzt sind. Dass man also beispielsweise eine 15- oder 16-Jährige, die klar und über längere Zeit bekundet, einen älteren Mann zu lieben, nicht einfach in die Psychiatrie einweisen lassen kann.“ Andererseits bedeute das Urteil aber auch nicht, dass das elterliche Sorgerecht ohne triftigen Grund eingeschränkt werden könne. „Das Urteil ist ja nach reiflicher Prüfung gesprochen worden“, sagte Eva Becker: „Da haben sich Richter, Rechtsbeistände und wahrscheinlich auch Sachverständige ein sehr genaues Bild vom Einzelfall gemacht.“

Das Thema sei auch im Zusammenhang mit der Debatte über Kinderehen oder Zwangsverheiratungen wichtig, sagte Eva Becker weiter. Da beginne die rechtliche Diskussion gerade erst. Sehr viele Fragen, müssten, aber könnten nicht so ganz einfach beantwortet werden. „So haben wir alle beim Thema Kinderehe die 17-Jährige vor Augen, die mit 14 einen älteren Mann heiraten musste. Aber was ist mit der 50-Jährigen, die mit 14 verheiratet wurde und viele Jahre mit ihrem Mann lebte. Soll diese Ehe auch nicht gültig sein?“ In der vergangenen Woche waren die Gesetzespläne von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) zum Verbot von Kinderehen bekannt geworden. Damit regierte Maas auf die steigenden Zahl von Kinderehen bei  Flüchtlingen in Deutschland. Die Union hatte die Pläne als nicht weitgehend genug kritisiert. Maas will Ehen von unter 16-jährigen   für nichtig erklären lassen. Im Alter zwischen 16 und 18 Jahren soll es Ausnahmeregeln geben, die sich aus dem Kindeswohl ergeben.

Eltern erwirkten Kontaktverbot, steckten Tochter in Psychiatrie

Zurück zum Brandenburger Fall: Konkret gingen Josephine und ihr früherer Onkel gegen einen von ihren Eltern erwirkten Beschluss des Amtsgerichts Oranienburg (Oberhavel) vor. Die Eltern des Mädchens hatten nach ihrer Rückkehr aus Südfrankreich immer wieder versucht, den Kontakt der Tochter zu ihrem Onkel mit aller Macht zu unterbinden, wogegen sich das Mädchen wehrte und sich selbst einen Verfahrensbeistand organisierte. Im Juni/Juli 2015 eskalierte die Lage: Josephine lehnte eine Rückkehr in den Haushalt der Eltern ab, konnte die Schule nicht mehr besuchen und kam in Kindernotunterkünften in Berlin unter. Ihr Versuch, in einer Einrichtung für betreutes Wohnen unterzukommen, um wieder regelmäßig zur Schule zu gehen, wurde von den Eltern und den Behörden abgelehnt.

Das Amtsgericht Oranienburg hatte dann aber im August 2015 auf Druck der Eltern ein Kontakt- und Näherungsverbot für den Onkel verfügt. Parallel steckten die Eltern ihre Tochter sogar für fünf Wochen in die Psychiatrie in Neuruppin. Dabei hatte Josephine der Richterin selbst erklärt, dass sie „sich von ihren Eltern verfolgt fühle, die mit allen – auch unlauteren und strafrechtlich relevanten – Mitteln versuchten, ihre Beziehung“ zu unterbinden. In ihrer Beschwerde gegen das Urteil beklagte Josephine dann, dass das Gericht einseitig den Ausführungen der Eltern gefolgt sei und die Jugendliche und ihre Verfahrensbeistand nicht gebührend gehört worden seien. Die Kindeswohlgefährdung gehe nicht von ihrem Partner, sondern allein von den Eltern aus. Ihnen gehe es kompromisslos einzig um die Ächtung und Ausgrenzung des Partners.

Das OLG kassierte den Beschluss des Amtsgerichts dann. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen solchen Eingriff wie ein Kontaktverbot lägen gar nicht vor. Es befand sogar, dass das Kontaktverbot in dem wegen des harten Vorgehens der Eltern erst eskalierten Konflikt Gefahren für das Wohl des Mädchen bedeute. In dieser Situation wäre es kein angemessenes Mittel – weil das Verbot auch auf die Jugendliche zurückwirkt. Dies müsse bei solchen Maßnahmen berücksichtig werden, das aber hat das Amtsgericht unterlassen. Den aus dem sogenannten Adoleszenzkonflikt entsprungenen Gefahren für das Wohl der Jugendlichen könne nicht wirksam mit einem solchen Verbot begegnet werden.

Oberlandesgericht: Alter, Reife und Eigenentscheidung des Mädches zählen auch

Zudem hat das OLG der eigenen Entscheidung des Mädchens ein hohes Gewicht beigemessen. Der Kindeswille könne hier nicht übergangen werden, ohne dass dadurch das Kindeswohl gefährdet würde. Die Jugendliche habe ihren Wunsch, diese Liebesbeziehung weiter zu leben, „intensiv, zielorientiert, erlebnisgestützt und stabil“ geäußert, laut Gericht eine sehr bewusste Eigenentscheidung, die angesichts des Alters und der Reife des Mädchens zu beachten sei.

Die Eltern beriefen sich laut OLG auf „offensichtlich zweifelhaft zustande gekommene ärztliche Diagnosen“, die vom Jugendamt mitgetragen wurden. Doch nach Ansicht der Familienrichter boten die Diagnosen „keinerlei tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass bei Josephine eine psychische Erkrankung vorliegen könnte, die den Schluss zuließe, die Jugendliche befinde sich (anhaltend) in einem die freie Willensbildung hindernden oder entscheidend beeinträchtigenden Zustand“. Keines der ärztlichen Atteste oder amtsärztlichen Berichte „bietet hierfür auch nur belastbare Indizien“. 

Attest eines Arztes aus der Familie auf Zuruf 

Ein anderer Onkel, ein Allgemeinmediziner, soll Josephine ohne Untersuchung, aber auf Zuruf der Eltern einen Attest ausgestellt haben, damit Josephine in die Psychiatrie kommt – was immerhin eine Freiheitsentziehung ist. Die Ärzte in der Neuruppiner Jugendpsychiatrie machten laut Urteil weiter: Deren Diagnose „wahnhafte Störung“ erwies sich laut OLG aber nicht als tragfähig. Vielmehr erwies sich Josephine „als überdurchschnittlich intelligent, geprägt von einer gesundheitsbewussten Haltung, einer durchweg positiven Lebenseinstellung, hilfsbereit, empathisch, sozial orientiert und außerordentlich gelassen“. Bei der Diagnose einer angeblichen wahnhaften Störung hätten sich die Ärzte vielmehr unkritisch das Argumentationsschema der Eltern übernommen: Dass nämlich der Beziehung ihrer Tochter zu dem mehr als 30 Jahre älteren Mann etwas Krankhaftes innewohnen muss.

Dennoch besteht aus Sicht des Familiensenats am OLG eine erhebliche psychische Beeinträchtigung von Josephine: Sie fühle sich von ihren Eltern nicht einfach nur unverstanden, sondern verraten und verfolgt. Das Jugendamt erlebe sie nur als willfährigen Vollstrecker der Ziele ihrer Eltern, die ihre Wünsche und Vorstellungen missachteten Josephine habe Angst davor, verfolgt und unter ständiger Kontrolle leben zu müssen und faktisch eingesperrt zu werden. Die Richter beobachteten auch eine „Wagenburg-Mentalität“: Je mehr Eltern, Jugendamt und Ärzte das Ende der Beziehung zu dem Onkel hinwirken, desto mehr klammere sich das Paar aneinander. Unter solchen Lebensumständen, geprägt von einer „feindseligen, fast hasserfüllten Rücksichtslosigkeit“ auf beiden Seiten, drohe die Jugendliche „in ihrer sozial-emotionalen und psychischen Entwicklung schweren Schaden zu nehmen“, urteilte das OLG. Laut der Entscheidung konnten die Eltern ohnehin nicht mehr auf ihre Tochter erzieherisch einwirken, lehnten jedoch auch jede Lösung ab, bei der sie die Beziehung von Josephine akzeptieren müssten. Die Richter sprechen von einer Drucksituation, in die sich Josephine – „nicht zu Unrecht – getrieben fühlte und in der sie sich veranlasst sah, sämtliche Möglichkeiten bis zu einem Antrag auf Genehmigung der Heirat mit Vollendung des 16. Lebensjahres auszuschöpfen“.

Josephine hat einen großen Selbstbehauptungswillen

Dass der Fall an sich ungewöhnlich ist, räumt auch das Gericht ein. „Zu der nicht justiziablen Frage, ob ein gestandener 47-jähriger verheirateter Mann, der Vater mehrerer Kinder ist und Pflegekinder betreut (hat), die aus pubertärer Schwärmerei und Zuneigung entstandene Liebe einer 14-Jährigen aus dem erweiterten Familienkreis tatsächlich erwidern muss, verbietet sich jede Stellungnahme des Senates“, heißt es in den Urteil.

Allerdings könne nicht die Rede davon sein, dass die Jugendliche ausschließlich darauf fixiert sei, um jeden Preis ihre Paarbeziehung fortzusetzen. Es gebe kein Anzeichen für eine verfestigte Abhängigkeit. Zwar wollte Josephine die Beziehung leben, verfolge aber eigene Ziele für ihre Leben und fordere eine eigene Lebensperspektive für sich ein. Sie habe über Monate darum gekämpft einen Platz im betreuen Wohnen zu bekommen, um wieder zur Schule gehen zu können. Sie zeige sich für ihr „Alter und angesichts der seit langem auf ihr lastenden Ungewissheit außerordentlich selbständig und ausgestattet mit einem großen Selbstbehauptungswillen“. Und dieser Wille dürfe nicht übergangen werden. Sie sei keine Marionette und Instrument ihres Partners im Machtkampf mit den Eltern. Die Beziehung „mag unerwünscht und sozial geächtet sein; sie ist aber grundsätzlich nicht strafrechtlich sanktioniert, also nicht schlechthin verboten“, urteilten die Richter.

 "Erziehung zur Mündigkeit erfordert in diesem Bereich einen Rückzug elterlichen Bestimmungsrechts"

Gefahr für das Wohl von Josephine entstehe nicht durch die Beziehung zu ihrem älteren Partner, sondern aus dem eskalierten Streit mit den Eltern um die Fortsetzung der Beziehung. Daher ist es für das Gericht viel näher liegend, „diese Beziehung aus der Heimlichkeit und den daraus abgeleiteten nachteiligen Folgen herauszuholen“ und Josephine einen Neustart zu ermöglichen. „Der Senat ist sehr zuversichtlich, dass das gelingen wird“, stellte das Gericht fest. Ein Kontaktverbot würde das Selbstwirksamkeitsgefühl der Jugendlichen empfindlich treffen. Und es berge die für ihre Entwicklung weit größere Gefahr von Kompensationshandlungen.

Auch für andere Eltern von Teenagern ist die Entscheidung aufschlussreich. Zu berücksichtigen sei das Leitbild der Erziehung zu einer eigenständigen und –verantwortlichen Persönlichkeit des Kindes. Wörtlich heißt es in dem Urteil: „Natur und Recht zielen auf eine Ablösung des Kindes von seinen Eltern. Selbstbestimmungs- und -verantwortungsfähigkeit des Individuums entstehen nicht schlagartig mit der Volljährigkeit, sondern wachsen kontinuierlich vom frühesten Alter an und sind jeweils von den Eltern angemessen zu achten und zu fördern. Vor allem ab der Pubertät findet beim Kind ein bewusstes Einüben in selbständige – und damit häufig auch tendenziell gegen die Position der Eltern gerichtete – Entscheidungen statt. Auch durch Verhinderung dieses Einübungsprozesses oder durch grobe Missachtung der Eigenentscheidung des Heranwachsenden kann dessen seelisches und geistiges Wohl gefährdet sein.“

Und weiter: „So wenig von einem Erwachsenen die Begründung erwartet wird, weshalb er jemanden mag oder liebt, so wenig kann der Heranwachsende zur positiven Rechtfertigung seines Umgangs verpflichtet sein. Erziehung zur Mündigkeit erfordert in diesem Bereich einen Rückzug elterlichen Bestimmungsrechts zugunsten bloßer elterlicher Kontrolle kindlicher Selbstbestimmung. Deren Missachtung unter Ausnutzung formal bestehender Sorgemacht im Außenverhältnis ist geeignet, das psychosoziale Kindeswohl zu gefährden (…). In einer schicksalhaften Konfliktsituation kann einer als Akt achtenswerter Selbstbestimmung getroffenen Entscheidung eines heranwachsenden Kindes ein solches Gewicht beizumessen sein, dass der Kindeswille nicht übergangen werden kann, ohne dass dadurch das Kindeswohl gefährdet würde.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false