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Grund zur Sorge. Innenminister Schröter mit dem Verfassungsschutzbericht.

© Settnik/dpa

Brandenburg: Beunruhigende Rekorde

Brandenburgs Verfassungsschützer registrieren Zulauf für Extremisten aller Couleur – und sind überlastet

Potsdam - Im Henning-von Tresckow- Saal des Innenministeriums in Potsdam sind schon viele Brandenburger Verfassungsschutzberichte vorgestellt worden. Doch was Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) und Verfassungsschutzchef Carlo Weber am gestrigen Freitag mit dem Bericht für 2016 verkünden mussten, ist in der jüngeren Landesgeschichte in jeder Hinsicht einmalig: In Brandenburg haben Extremisten an allen Fronten Zulauf – ob Neonazis, Linksextremisten oder Islamisten. Die Behörde registrierte teils historische Rekordwerte. Zugleich mussten Schröter und Weber eingestehen, dass der Verfassungsschutz so wenig Personal hat wie nie: „Niedrigste Zahl von Verfassungsschützern seit knapp 20 Jahren.“ Die PNN geben einen Überblick über die auf 116 Seiten dokumentierte Bedrohungslage – und die dramatische Lage beim von der rot-roten Regierung vernachlässigten Inlandsnachrichtendienst.

630 gewaltbereite Neonazis

Seit der Flüchtlingskrise erlebt der Rechtsextremismus, zu dem der Verfassungsschutz jetzt 1390 Personen zählt – der Höchstwert seit 2006 –, einen deutlichen Zulauf und eine „deutliche Radikalisierung“. 630 Rechtsextremisten werden als gewaltbereit eingestuft. Mit 167 „braunen“ Gewaltstraftaten, 38 mehr als im Vorjahr und der höchste Wert seit 1993, hat Brandenburg prompt das Niveau der 1990er-Jahre erreicht. Damals erschütterten regelmäßig rechtsextreme Anschläge das Land. Zulauf haben auch die „Reichsbürger“, von denen es 440 in Brandenburg gibt, 140 mehr als im vorigen Jahr. Das sei „noch nicht das Ende der Fahnenstange“, sagte Weber. Die NPD (300 Mitglieder, plus 10 gegenüber 2015) und andere rechtsextreme Parteien profitieren nicht. Der „III. Weg“ etwa hat in Brandenburg nur 30 Mitglieder (plus 5). Erstmals wird im Bericht die „Identitäre Bewegung Berlin-Brandenburg“ vollständig dem Rechtsextremismus zugeordnet. Die habe in Brandenburg 20 Unterstützer, jedoch wachsenden Einfluss, hieß es. Die rechtspopulistische AfD ist nicht Beobachtungsgegenstand des Verfassungsschutzes, betonte Weber. Bei der Beobachtung der Identitären sei aber festgestellt worden, dass es Kontakte zur AfD gibt. Geografisch bleibt der Süden Brandenburgs Hochburg der rechtsextremen Szene, besonders der Cottbuser Raum. „Die dortige Szene ist hochgradig gewaltorientiert. Sie bündelt Neonationalsozialisten, Rocker, Angehörige des Bewachungsgewerbes, Kampfsportler, Hassmusiker sowie Hooligans“, so die Verfassungsschützer. Allerdings haben die Sicherheitsbehörden auch Erfolge zu vermelden: Sie halten die rechtsextreme Musikszene zumindest in Brandenburg in Schach. Neun rechtsextremistische Musikveranstaltungen haben die Sicherheitsbehörden im Jahr 2016 in Brandenburg gezählt, das ist der höchste Stand seit 2012. Aufgelöst wurde kein Konzert, aber weitere elf konnte die Polizei verhindern. Sorgen bereitet den Behörden der Neonazi Sebastian Raack. Er ist mit seinem Label „OPOS Records“ einer der aktivsten Produzenten und Händler von Neonazi-Musik in Deutschland. Seit Dezember hat er in einem alten Gasthof in Lindenau (Oberspreewald-Lausitz) ein Ladengeschäft. Nun befürchten die Behörden, dass sich der Ort als neuer Anlaufpunkt für Konzerte der Neonazi-Szene etablieren könnte.

Gewaltbereitschaft am linken Rand wächst

Die linksextreme Szene ist mit 500 Anhängern deutlich kleiner als die rechtsextreme, wächst aber auch. Auch am linken Rand steigt die Gewaltbereitschaft. Der Verfassungsschutz geht von 210 gewaltbereiten Linksextremisten aus – „höchster Stand linksextremistischer Gewalt seit Bestehen des Landes“, heißt es in dem Bericht. Für die Rechtsberatung politisch motivierter Straftäter steht ein linksextremer Verein: Der Verfassungsschutz meldet auch den höchsten Stand von Mitgliedern der linksextremistischen „Roten Hilfe“ seit Bestehen des Landes. Der Verein zähle jetzt 215 Mitglieder (plus 5). Die Mitgliedschaft des Brandenburger Linke-Vizelandesparteichefs und Bundestagsabgeordneten Norbert Müller in der „Roten Hilfe“ hatte in der Vergangenheit für Kritik und einen Konflikt in der rot-roten Koalition gesorgt. Im aktuellen Verfassungsschutzbericht wird die „Rote Hilfe“ so eingeschätzt: „Innerhalb des Linksextremismus behauptet sie ihre Rolle als übergreifende, zwischen allen Strömungen vermittelnde Konsensorganisation.“

100 Islamisten, davon zehn „Gefährder“

Der Verfassungsschutz hat in Brandenburg nunmehr 100 islamistische Extremisten im Visier, 30 mehr als 2015. Zehn sind als „Gefährder“ im Zusammenhang mit Terrorgefahr eingestuft. Die meisten davon haben Bezüge zum „Kaukasus-Emirat“, das sich teilweise dem terroristischen „Islamischen Staat“ unterstellt hat. Laut dem Bericht gibt es auch Erkenntnisse, dass Personen aus Brandenburg in Richtung Syrien ausgereist sind, vermutlich, um dort an Kampfhandlungen teilzunehmen. „Islamistische Extremisten binden enorme personelle, materielle und finanzielle Ressourcen unserer Sicherheitsbehörden“, heißt es im Bericht. „Mit einem weiteren Anstieg dieses Personenpotenzials muss gerechnet werden.“

Verfassungsschutz völlig überlastet

Neben der Beobachtung des Extremismus hat der Verfassungsschutz auch Spionageabwehr als Aufgabe – und die Zuverlässigkeit- und Sicherheitsüberprüfungen für sensible Jobs, etwa an Flughäfen, in Polizei, Justiz und Regierung. Allein 2016 bearbeitete die Behörde 5004 solcher Anfragen. Sollte der Flughafen BER tatsächlich einmal eröffnen und Tegel geschlossen werden, sagte Weber, werde der Brandenburger Verfassungsschutz in der Hauptstadtregion für alle diese Anfragen zur Sicherheit bei Flughäfen zuständig sein. „Das wird eine erhebliche Zusatzbelastung darstellen.“ Aber schon jetzt ist der Verfassungsschutz völlig überlastet. Weber nannte eine alarmierende Zahl: Der Verfassungsschutz hat aktuell nur noch 87 Mitarbeiter, zwölf abgeordnete Kräfte aus Polizei und Innenministerium helfen aus. Eigentlich bräuchte die Behörde nach seiner fachlichen Einschätzung rund 125 Mitarbeiter – wie zu Zeiten des früheren CDU-Innenministers Jörg Schönbohm, als die Bedrohungen noch weit geringer waren. Bislang scheiterte eine Aufstockung am Widerstand der Linken. Nun will Innenminister Schröter einen neuen Anlauf unternehmen. (mit axf)

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