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Besuch im kleinen Berlin: Berlinchen: Schaut auf dieses Dorf!

Neidisch sind sie nicht, die Berlinchener, 125 Kilometer im Nordwesten der Hauptstadt. Die Zugezogenen machen zwar Ärger und der Nahverkehr ist eine Katastrophe, aber der Flughafen funktioniert.

Wer von Berlin aus nordwestwärts nach Wittstock fährt und dann der Haßlower Chaussee Richtung Müritz folgt, vorbei an Maisfeldern, Windkrafträdern und Kiefernwäldern, der kommt kurz vor der brandenburgisch-mecklenburgischen Landesgrenze durch ein kleines Dorf.

Es beginnt mit einer umzäunten Freilauffläche, auf der ein paar hundert Hühner picken, gefolgt von ein paar alten LPG-Hallen, hinter denen die ersten niedrigen Wohnhäuser auftauchen. Wo die Landstraße nach rechts abknickt, liegt ein kleiner Dorfplatz mit einer hell verputzten Kirche, daneben ein Weltkriegsdenkmal, etwas weiter ein Friedhof. Noch ein paar Dutzend Wohnhäuser, dann ist das Dorf auch schon wieder vorbei.

Auf den ersten Blick ist da wenig, woran das Auge hängenbleibt. Viele Dörfer in der Prignitz sehen so aus.

Wenn da nicht dieses Schild wäre:

Berlinchen Stadt Wittstock/Dosse Landkreis Ostprignitz-Ruppin

Neben dem Schild halten oft Autos an, sagen die Leute im Dorf. Die Fahrer steigen dann aus. Sehen sich grinsend um, als ob sie jemanden suchen, mit dem sie den Witz teilen können. Berlinchen. Mensch. Gibt’s doch nicht.

Dann zücken sie ihr Handy. Machen ein Foto. Schicken es den Freunden in Berlin. Guckt mal. Berlinchen. Mensch.

Es kommt vor, dass dann ein zweites Auto anhält, eins aus dem Dorf, Kennzeichen OPR für Ostprignitz-Ruppin, aus dessen Fahrerfenster sich bei laufendem Motor ein alter Mann mit Schirmmütze lehnt. Und eine Weile schweigend zusieht, wie da ein Ortsfremder das Schild ansieht. Und schließlich fragt: „Was gibt’s denn da?“

„Kenn ich ’ne Geschichte“

Na, das Schild, sagt der Fremde. Und deutet auf das Schild, als sei es dem Mann aus dem Dorf vielleicht noch nicht aufgefallen. Berlinchen. Mensch.

Der alte Mann guckt. Schweigt. Der Motor läuft.

„Kenn ich ’ne Geschichte“, sagt der Mann dann. Und schweigt noch mal kurz, bis er sicher ist, dass der Fremde ihm zuhört. „Wie ich bei der Armee war, wollt ich mal Urlaub anmelden. Schreib ich auf den Zettel: Berlinchen. Der Diensthabende guckt. Willst du mich verscheißern, fragt er, Berlinchen, das denkst du dir doch aus. Nee, sag ich, da komm ich her, und jetzt mach hinne, ich verpass den Zug.“

Schweigen. Motor läuft. Mensch aus Berlinchen und Mensch von woanders starren gemeinsam das Berlinchen-Schild an. Mensch.

„Na denn“, sagt der alte Mann, die Handbremse lösend. „Schönen Tag auch.“

Man schrieb das Jahr 1274, als ein mecklenburgischer Fürst dem niedersächsischen Kloster Amelungsborn ein Dorf namens „Minoris Berlin“ verkaufte, dessen Name im lateinischsprachigen Kaufvertrag zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde. Von „Lütten Berlin“, „Lütteken Berlin“, „Klein-Berlin“ und schließlich „Berlinchen“ ist in späteren Dokumenten die Rede.

Das andere, heute bekanntere Berlin ist nicht viel älter als sein brandenburgisches Namensvetterchen. Die Siedlung am Spreeufer wurde 1244 erstmals urkundlich erwähnt, nur 30 Jahre früher als Berlinchen.

Trotz des gemeinsamen Namens haben beide Orte im Grunde nichts miteinander zu tun. Klein-Berlin wurde nicht in Abgrenzung zu Spree-Berlin so genannt, sondern in Abgrenzung zu Groß-Berlin, einem Nachbardorf, das heute nicht mehr existiert. Mit Spree-Berlin teilt sich Berlinchen lediglich dieselbe slawische Wortwurzel, die ein sumpfiges Gebiet bezeichnet.

Berlinchen, das mag im Vergleich mit Berlin klein klingen. Aber es ist ja nichts Schlechtes, der kleinere Sumpf zu sein.

Zweimal verschwand das Dorf fast von der Landkarte: zum ersten Mal im Dreißigjährigen Krieg, den nur zwölf Einwohner überlebten, zum zweiten Mal bei einem Großbrand im Jahr 1848, den fast kein Haus überstand. Die Dorfkirche wurde in den Jahren nach dem Brand neu gebaut, rundherum gruppierten sich nach und nach jene knapp 100 Häuser, in denen heute knapp 200 Berlinchener leben.

Die Dorfbewohner heißen Berlinchener, nicht Berlinerchen. Wer sich hier Freunde machen will, sollte sich das merken.

Die Fremden, die mit dem Auto vor dem Ortsschild Halt machen, zücken manchmal nicht ihr Handy, sondern einen Schraubenzieher. Immer, wenn das passiert, muss Dieter Welchering die Stadtverwaltung in Wittstock anrufen und ein neues Schild anfordern. „Nee, oder?“, sagen die Wittstocker dann am Telefon. „Nicht schon wieder!“

Dieter Welchering ist so etwas wie das Regierende Bürgermeisterchen von Berlinchen. Als Ortsvorsteher kümmert er sich seit ein paar Jahren um die Belange des Dorfs. Der 60-Jährige, ein ruhiger, aber mit seinen eisblauen Augen und kantigen Kinnlinien eindringlich präsenter Typ, betreibt am Dorfplatz einen Buchladen mit angeschlossenem Café – das Dussmännchen und das Einsteinchen von Berlinchen, wenn man so will.

Früher saß in dem einstöckigen Backsteinbau die Dorfkneipe „Unter den Linden“. Die hieß nicht etwa so, um nach Berlin zu klingen, sondern weil das Haus von ein paar Linden überragt wird. Der Vorbesitzer hatte den Laden aufgegeben, er lief nicht mehr gut. Eine Zeit lang stand er leer, bis Welchering, der eigentlich aus dem Münsterland kommt, eines Tages zufällig daran vorbeifuhr. Er hatte ausgiebige Wanderjahre hinter sich, die ihn als Fernfahrer quer durch Europa geführt hatten, vorübergehend hatte er eine eigene Spedition mit sechs Lastwagen betrieben, die Hilfsgüter bis in den Nahen Osten transportierte, auch in Portugal hatte er eine Weile gelebt, wo er Porzellan aus Litauen importierte und nebenbei in den Handel mit antiquarischen Büchern einstieg. Der Liebe wegen wäre Welchering fast weiter nach Polen gezogen, blieb aber auf dem Weg dorthin im ländlichen Brandenburg hängen, mit ein paar tausend Büchern im Gepäck, für die er ein passendes Ladenlokal suchte. Als er die leer stehende Dorfkneipe unter den Linden sah, schlug er zu. Er baute den Festsaal zum Antiquariat um und machte aus der Schankstube ein Café. Das Ganze taufte er „Schmökerstuw“, was mehr nach Münsterland als nach Brandenburg klingt. So landete er in Berlinchen. Sechs Jahre ist das nun her.

„Dieter, hast du immer noch keine Bockwurst?“

Zum Amt des Ortsvorstehers sei er gekommen „wie die Jungfrau zum Kinde“, sagt Welchering. Kurz nach seiner Ankunft ließ er sich überreden, für den dreiköpfigen Ortsbeirat zu kandidieren. Er wurde gewählt, wenn auch mit deutlich weniger Stimmen als die beiden anderen Mitglieder, die stärker im Dorf verwurzelt waren und das Gremium zunächst leiteten. Als beide aus privaten Gründen zurücktraten, rückte Welchering, der Zugezogene, unverhofft zum Ortsvorsteher auf.

Seitdem hört er geduldig zu, wenn sich der eine Dorfbewohner über den ungemähten Rasen des anderen beschwert oder über das Geäst, das der Nachbar durch den Gartenzaun wuchern lässt. Wenn der Wittstocker Bürgermeister mit seiner Entourage vorbeischaut, führt Welchering ihn durchs Dorf und meldet Wünsche an – wohl wissend, dass neben Berlinchen noch 17 andere Wittstocker Ortsteile um die Gunst des Stadtoberhaupts buhlen und der politische Einfluss eines Ortsvorstehers begrenzt ist.

„Dieter, hast du immer noch keine Bockwurst?“, fragen die Kunden in der Schmökerstuw manchmal grinsend. Welchering, der was gegen Massentierhaltung hat, schüttelt dann nur stumm den Kopf, ebenfalls grinsend. Bei ihm stehen andere Sachen auf der Karte, Pilze zum Beispiel um diese Jahreszeit, Pfifferlinge, Steinpilze, Krause Glucken, die er in den brandenburgischen Wäldern selbst sammelt. Seine Gäste wissen das eigentlich, aber das mit dem Dieter und der Bockwurst ist im Dorf eine Art Dauerwitz.

Wer ein paar Nachmittage in Welcherings Lokal verbringt, stellt irgendwann fest, dass hier selten Berlinchener auftauchen. Fast alle Gäste kommen von anderswo. Meist sind es Fahrradfahrer und andere Ausflügler, die auf dem Weg durch die Prignitz in der Schmökerstuw einkehren. Manchmal schauen Stammgäste aus den umliegenden Dörfern auf ein Flaschenbier vorbei, meist ledige Männer in den besten Jahren wie Welchering selbst. In den Orten, in denen sie leben, seien die Kneipen längst eingegangen, erzählen sie. Früher, als noch fast alle Einwohner eines Dorfs in derselben LPG arbeiteten, habe man nach Feierabend gemeinsam getrunken. Heute, wo alle zum Arbeiten anderswo hinführen, tränken die meisten lieber zu Hause – nicht nur, weil es die alte Dorfgemeinschaft nicht mehr gebe, sondern auch, weil es billiger sei.

Hinzu kommt, dass die ausgehfreudigste Altersgruppe schwach vertreten ist. „Die jungen Leute wandern ab“, sagt Welchering. „Die Generation zwischen 25 und 40 fehlt in Berlinchen komplett.“

Eine Berliner Familie in Berlinchen

Vier Straßen und ein paar ungepflasterte Wege gibt es im Dorf, ein Antiquariat mit Café, einen Reiterhof mit Hotel, einen Landwirtschaftsbetrieb, einen Frisör, einen Kindergarten. Keinen Lebensmittelladen, keinen Bäcker, keinen Fleischer, keine Kneipe. Die Freiwillige Feuerwehr trifft sich montags, die Volleyballer dienstags, die Linedancer donnerstags, unregelmäßig gibt es Handarbeitstage und Kartenspielnächte. Ein Bäcker aus einem Nachbarort verkauft zweimal die Woche Brot aus seinem Lieferwagen, für alle anderen Einkäufe müssen die Dörfler ins zehn Kilometer entfernte Wittstock fahren.

Der Ortsverein, der hier früher rauschende Dorffeste veranstaltete, für die Berlinchen überregional bekannt war, hat sich im vergangenen September aufgelöst. Es fand sich kein Nachwuchs mehr. Die Dorfschule ist schon länger geschlossen. Es gab nicht mehr genug Kinder.

Berlinchen könnte im Jahr 2049 ausgestorben sein

192 Einwohner hatte das Dorf, als im Dezember 2016 zuletzt gezählt wurde, Tendenz sinkend. Im letzten Jahrzehnt kamen auf 33 Todesfälle nur neun Geburten und auf 121 Wegzüge nur 83 Zuzüge – macht ein durchschnittliches Bevölkerungsminus von rund sechs Menschen im Jahr.

Wenn das so weitergeht, wird Berlinchen im Jahr 2049 ausgestorben sein.

Manche hier glauben allerdings, dass Berlinchen mehr Zukunft hat als Berlin.

In der Dorfkirche stimmen an einem Sonntagmorgen knapp 20 Menschen Lied 352 aus dem Evangelischen Gesangbuch an.

... sollt ich mich bemühn um Sachen, die nur Sorg und Unruh machen und ganz unbeständig sind? Nein, ich will um Güter ringen, die mir wahre Ruhe bringen, die man in der Welt nicht find’t ...

Neben dem jungen Pastor, der aus Wittstock angereist ist und in Berlinchen nur alle paar Wochen Gottesdienste abhält, weil er in der Region mehr Gemeinden betreut als der Monat Sonntage hat, sitzt eine Frau mit einer Gitarre. Beate Corbach hält den wackligen Gesang der Gemeinde mit ihren Akkorden zusammen, ihr Mann Steffen Jander sitzt mit dem gemeinsamen Sohn Titus auf den Stühlen unter der Orgelempore. Zu dritt sind die beiden vor sechs Jahren nach Berlinchen gezogen – aus Berlin.

Corbach kommt ursprünglich aus dem Oderbruch und macht Öffentlichkeitsarbeit für ein Windkraftunternehmen. Jander, der in Prenzlauer Berg geboren wurde, erstellt als Landschaftsplaner Umweltgutachten für Bauvorhaben. Dass die Stadt, in der sich die beiden kennenlernten, nicht der Ort war, an dem sie ihr Leben fristen wollten, merkten sie nach der Geburt ihres Sohnes, der heute zehn Jahre alt ist.

„Als Titus zur Welt kam, fiel mir erst auf, wie dreckig und laut Berlin ist“, erinnert sich Beate Corbach. „Ständig musste ich das Kind davon abhalten, irgendwas anzufassen, ständig musste ich es von einer sicheren Insel zur nächsten transportieren, weil es sich nirgends alleine bewegen konnte.“

Hinzu kam für ihren Mann Steffen Jander ein Drang nach Nachhaltigkeit, mit dem er sich in der Stadt schon länger nicht mehr am richtigen Ort fühlte. „Berlin hat viele Einwohner, aber im Vergleich mit Brandenburg kaum Fläche“, sagt er. „Die Umweltentscheidungen, die auf dem Land getroffen werden, haben weitreichendere Auswirkungen als in der Stadt. Berlin kann zehnmal alles richtig machen – das fällt kaum ins Gewicht, wenn es in Brandenburg falsch läuft.“

Als Titus vier Jahre alt war, packten die Eltern ihn ins Auto und fuhren auf der Suche nach einem Bauernhof durch Brandenburg. Manche Orte, die sie sich anschauten, gefielen Corbach und Jander, aber nicht Titus, der meist gar nicht erst das Auto verlassen wollte. Anders in Berlinchen. Obwohl noch Schnee lag, als sich die Familie den leer stehenden Vierseithof am Dorfplatz ansah, lief Titus in den Hof, legte sich rücklings auf den Boden, schaute in den Winterhimmel – und schlief ein. Die Entscheidung für Berlinchen war gefallen.

Bio-Landwirtschaft und Nagelbretter

Etwa um jene Zeit wurde das alte LPG-Land, das nach der Wende zunächst ein Biobauer bewirtschaftet hatte, von einem niederländischen Agrarkonzern übernommen. Der stellte von Bio auf konventionelle Landwirtschaft um und plante zudem, im Dorf einen Mastbetrieb mit ein paar tausend Rindern aufzubauen. Manche in Berlinchen hielten das für keine gute Idee. Weil sich herumgesprochen hatte, dass die Neuberlinchener Jander, Corbach und Welchering keine Freunde der Massentierhaltung waren, wurden sie von einzelnen Dörflern angesprochen. Ihr könnt doch reden, sagten die Leute – kann man da nicht was machen?

Zu einem ersten Gedankenaustausch, den Jander und Corbach zusammen mit Welchering in der Schmökerstuw veranstalteten, tauchten mehr als 60 Berlinchener auf. Es folgte eine Informationsrunde in der Kirche, bei der Befürworter der konventionellen und der Bio-Landwirtschaft miteinander diskutierten. Auch der niederländische Landwirt saß im Publikum, aber niemand griff ihn an, der Austausch blieb friedlich. Erst als die Gäste die Kirche verließen, schlug plötzlich jemand Alarm: „Achtung, Leute, Nagelbretter!“

Die Bretter waren unter den Reifen der parkenden Autos verteilt. Da sowohl die Bio- als auch die Gegenfraktion betroffen war, blieb unklar, welche Botschaft die Nägel vermitteln sollten. Vielleicht wollte irgendjemand einfach Stimmung gegen alle Zugezogenen machen, die Unruhe ins Dorf brachten.

Was aus der Geschichte mit den Rindern wird, ist offen. Unabhängig von ihrem Ausgang aber ist sie für Jander eins von vielen Beispielen dafür, dass engagierte Menschen auf dem Land mehr bewirken können als in der Stadt. In seinen sechs Berlinchener Jahren hat er unter anderem einen Landschaftspflegeverein für die Ostprignitz ins Leben gerufen: „ein irres Instrument, mit dem man auf dem Dorf ganz viel bewegen kann“. Er hat ein Konzept zur Umgestaltung des Dorffriedhofs entworfen und die Berlinchener dafür gewonnen, es in ehrenamtlichen Arbeitseinsätzen umzusetzen. Und Beate Corbach wurde wenige Monate nach ihrer Ankunft im Dorf zur Kirchenratsältesten gewählt.

„In Berlin“, sagt Jander, „sind mir immer viele Menschen begegnet, die sehr groß denken, aber wenig davon umsetzen können. In Berlinchen ist es umgekehrt: Die Menschen denken hier manchmal sehr klein, aber wenn sie wollen, können sie wahnsinnig viel bewirken.“

"Wenn die Katastrophe kommt, ist Berlin als Erstes am Ende“

Wenn Jander an Berlin zurückdenkt, kommt er manchmal in düstere Stimmung. Spätabends an der Feuerstelle im Hof, wenn die Glut fast heruntergebrannt, der Wein fast ausgetrunken ist, malt er sich dann aus, was passieren würde, wenn der Klimawandel ungebremst seinen Lauf nähme. „Die Städte leben von den Dörfern“, sagt Jander. „Sie können sich nicht selbst versorgen. Wenn die Katastrophe kommt, ist Berlin als Erstes am Ende.“

Titus, was ist in Berlinchen besser als in Berlin?

„Dass ich hier ein Baumhaus habe. Und einen Teich im Garten. So was kann man in Berlin gar nicht haben.“

Und was ist nicht so gut?

„Dass man immer so weit fahren muss, um Freunde zu treffen.“

Gleichaltrige gibt es im Dorf fast nicht. Titus’ Schule liegt in Wittstock, die Eltern fahren ihn hin und holen ihn ab, ähnlich ist es bei seinen Klassenkameraden. Sein bester Freund lebt rund 25 Kilometer entfernt. Man muss solche Distanzen hier immer mit vier multiplizieren: 50 Kilometer Autofahrt beim Hinbringen, 50 beim Abholen, macht zusammen 100 Kilometer pro Besuch.

Fast jede Familie in Berlinchen hat zwei Autos vor dem Haus stehen. Sobald die Kinder den Führerschein machen, sind es oft drei.

Berlinchen hebt ab

Der Flugplatz Wittstock/Berlinchen ist weder das BERchen des Dorfs (denn er ist in Betrieb) noch das Tegelchen des Dorfs (denn niemand will ihn schließen). Er ist eher ein Musterbeispiel dafür, wie schnell man einen Flugplatz ans Laufen bringen kann.

Am 11. April des Jahres 1954 gründete sich in Wittstock die „Gruppe Segelflug“, deren Mitglieder bereits im September desselben Jahres einen ersten Flugplatzentwurf zu Papier brachten (am Rand der handschriftlichen Skizze findet sich der Vermerk „Hindernisse: Schafstall“). Keine zwei Jahre später, am 2. April 1956, fand auf dem fertigen Platz der erste Start mit einem Schulgleiter statt, noch einmal drei Jahre später war der Hangar für die Flugzeuge fertig. Gesamte Planungs- und Bauzeit: nicht einmal fünf Jahre.

Gut, es gibt hier auch keine Entrauchungsanlage. Der Segelflugplatz am Dorfrand von Berlinchen besteht im Wesentlichen aus einer Wellblechhalle, einem Klubhaus und einer Wiese.

Zum zehnjährigen Bestehen des Flugvereins schrieb 1965 ein Klubmitglied in der „Märkischen Volksstimme“: „Wir wollen heute die Gelegenheit nutzen und unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat unseren Dank aussprechen, der uns Segelfliegern große finanzielle und materielle Unterstützung gibt.“

Die Unterstützung war leider nicht von Dauer. Zusammen mit mehreren anderen Flugplätzen in der DDR wurde Wittstock/Berlinchen 1979 für den Sportbetrieb gesperrt.

„Fluchtgefahr“, sagt Dieter Krüger trocken. „Dabei wäre man von hier aus mit einem Segler kaum bis zur Grenze gekommen.“

Zehn Jahre lang wurde das Gelände zusammen mit dem benachbarten Schießplatz nur noch für militärische Übungen genutzt. Krüger, der 76 Jahre alt ist, gehört zu den Vereinsveteranen, die den Flugplatz unmittelbar nach der Wende wieder in Betrieb nahmen.

Die älteren Segelflieger im Klub können viele Geschichten über ihr schwieriges Verhältnis zur DDR erzählen. Einer, der in den späten 70er Jahren noch auf dem Flugplatz Saarmund bei Potsdam trainierte, hatte dort zufällig an der Seilwinde Dienst, als ein befreundeter Flieger über die Mauer hinweg zum britischen Flugplatz Gatow in West-Berlin segelte. Dass er seinem Sportgenossen zwar beim Start geholfen hatte, ohne aber in dessen Fluchtpläne eingeweiht zu sein, wollte die Stasi nicht glauben – man entzog ihm auf Lebenszeit die Fluglizenz. Ähnliches widerfuhr einem Vereinsmitglied, dessen Schwester in den Westen floh. Obwohl sie die DDR auf dem Landweg verlassen hatte, ließ man ihren Bruder nie wieder fliegen.

Bei Tempo 100 hebt der Motorsegler ab

Wer den Geschichten länger zuhört, ahnt, wieso manche hier immer noch so beseelt grinsen, wenn sie nach ihren Flugrunden aus den Maschinen klettern. Auch Krüger fliegt bis heute, nur Passagiere nimmt er nicht mehr gerne mit, das lässt er lieber seinen etwas jüngeren Klubkollegen Detlef Weiß machen.

Der steigt in den vereinseigenen Motorsegler vom Typ Falke und gibt Gas. Als die Tachonadel kurz über der 100 zittert, lösen sich die Räder aus dem Gras. Sekunden später taucht das Dorf unter den Tragflächen auf – der Kirchturm in der Mitte, die ziegelroten Hausdächer drum herum, dahinter der kleine Berlinchener See.

Ein Stück weiter, mitten im Wald, sind die Reste des alten sowjetischen Militärflugplatzes zu erkennen, wo zu DDR-Zeiten MiGs abhoben und dröhnend übers Dorf hinwegzogen. Die betonierten Startbahnen sind heute dicht an dicht mit Solarzellen zugestellt. Daneben sprenkeln Windkrafträder die endlosen Wald- und Ackerflächen, zwischen denen gelegentlich ein Dorf auftaucht.

Man bekommt hier oben eine Ahnung von dem, was Steffen Jander wohl meinte, als er über das Verhältnis von Stadt und Land, von Berlin und Berlinchen sprach. All die riesigen Flächen, auf denen hier Nahrung, Energie und Baumaterial gewonnen werden, dienen den Städten, aber sie liegen zwischen den Dörfern.

Hotel Adlonchen

„Der Landstrich östlich der Dosse ist der sandigste und unfruchtbarste Teil der Prignitz“, schrieb um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Dorfchronist Johann Berlin, dessen Nachname in Berlinchen früher keine Seltenheit war, die Gräber auf dem Friedhof zeugen davon.

Karg ist die Gegend auch heute. Einzelne Landstücke im Dorf sind von einer derart trockenen Beschaffenheit, dass die Berlinchener sich Spitznamen für sie ausgedacht haben. Die Gegend um den Friedhof heißt „Texas“. Näher am Dorfrand liegt ein Fleck, der „Afrika“ genannt wird.

„Der Boden ist so schlecht, dass selbst die Neubauernstellen mit 23 Hektar ausgelegt werden mussten, um lebensfähig zu sein“, vermerkte 1947 die örtliche Parteiführung in ihren Dokumenten zur sogenannten Bodenreform, mit der den fünf landreichsten Bauern des Dorfs das Eigentum entzogen wurde. „Trotzdem kann das Kontingent nicht erfüllt werden“, heißt es weiter. „Die Gemeinde ist einstimmig dafür, dass alle Enteigneten im Dorf verbleiben, weil fremde Siedler mit dem Boden nicht fertig werden.“

Unter den Enteigneten war auch ein Bauer namens Helmut Berlin, ein Nachkomme jenes Johann Berlin, der ein halbes Jahrhundert zuvor über die kargen Bodenverhältnisse östlich der Dosse geschrieben hatte. Helmut Berlin sah sich die neuen, sozialistischen Bodenverhältnisse noch eine Weile an. Als er Ende 1952 nicht mehr in der Lage war, das Erntekontingent abzuliefern, das die Partei den Bauern abforderte, entschied er, zusammen mit seiner Frau Charlotte und dem vierjährigen Sohn Harald in den Westen zu fliehen.

Den enteigneten Hof der Familie Berlin nutzte die 1953 gegründete Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft „1. Mai Berlinchen“ als Schweinestall. Mehrere hundert Tiere waren hier zu DDR-Zeiten untergebracht, der Dreck und der Gestank sollen atemberaubend gewesen sein.

Man merkt dem heutigen „Landhotel Berlinchen“ diese Vergangenheit nicht mehr an.

„Aus Berlin, ja?“

Die Rezeptionistin wartet, bis der Gast nickt.

„Kenn ich ’ne Geschichte“, sagt sie dann. „Als ich mal in Berlin war, vor 35 Jahren oder so, wollt ich bei der Sparkasse Geld holen. Schreib ich auf die Scheckpapiere: Weg zum Kindergarten 4, Berlinchen. Die Kassiererin guckt komisch. Dann geht sie weg und kommt lange nicht wieder. Ich denk: Was macht die denn? Tschuldigung, sagt sie, als sie wieder da ist – musste ich jetzt erst mal nachschlagen, ob es das wirklich gibt, Berlinchen.“

Das kleine Restaurant ist vollgestopft mit alten Bauernmöbeln

Das Landhotel Berlinchen ist so etwas wie das Adlonchen des Dorfs. Auf 20 Zimmer kommen 20 Pferde und Ponys, die Gäste sind meist Familien mit Kindern, die aus Berlin zum Reiten anreisen, oder städtische Schulklassen, die hier lernen, wie Landwirtschaft geht. Das kleine Restaurant des Hotels ist vollgestopft mit alten Bauernmöbeln und ausgestopften Wildtieren. „Die Städter mögen das so“, sagt Stefanie Berlin. „Das Urige, das Landleben – genau das suchen die.“

Stefanie Berlin ist die Schwiegertochter des enteigneten Landwirts Helmut Berlin, der sich nach seiner Republikflucht im niederrheinischen Krefeld zum Elektroschweißer umschulen ließ – ein Bauer, der den Arbeiter-und-Bauern-Staat verließ, um Proletarier zu werden. Als ihm nach der Wende sein alter Hof rückübereignet wurde, kehrte er zurück nach Berlinchen und baute gemeinsam mit seinem Sohn Harald und dessen Frau Stefanie das Hotel auf. Der Schwiegervater ist inzwischen tot, von ihrem Mann hat sich Stefanie Berlin getrennt, ihre Kinder leben anderswo. Die 61-jährige Hotelchefin ist somit – obwohl angeheiratet und zugezogen – die heute einzige Berlinchenerin, die noch den vormals so verbreiteten Familiennamen Berlin trägt.

Wo ist der alte Zusammenhalt?

Wie in Berlin wird auch in Berlinchen vieles von Zugezogenen gestemmt. Der Ortsvorsteher kommt aus dem Münsterland, das Hotel führt eine Niederrheinerin, die Sportler im Flugverein reisen aus drei Bundesländern an, das ehemalige LPG-Land beackern niederländische Landwirte und osteuropäische Erntehelfer, die Kirchenratsälteste kommt aus dem Oderbruch, der Gründer des Landschaftspflegevereins aus dem Prenzlauer Berg.

Die Einheimischen – diejenigen, die hier geboren, aufgewachsen und nie weggezogen sind – bleiben ein wenig unsichtbar. Man läuft ihnen nicht in der Schmökerstuw über den Weg, nicht im Landhotel und nur selten in der Kirche. Begegnet man ihnen doch einmal im öffentlichen Raum – auf dem Friedhof, am Seeufer, auf den Straßen –, klagen sie gerne darüber, dass der alte Dorfzusammenhalt futsch sei. Dass es die Kneipe nicht mehr gibt, die Schule, die Läden, die LPG. Dass alle auswärts arbeiten. Dass die Kinder ständig durch die Gegend gefahren werden müssen, weil ihre Schulfreunde anderswo leben, dass sie im Dorf von klein auf keine Kontakte mehr knüpfen. Dass der Ortsvorsteher ein netter Mann ist, in dessen Café aber eine Frauenhand fehlt. Dass er sich weigert, Bockwurst anzubieten, obwohl die Berlinchener nun mal Bockwurst mögen. Dass er den Festsaal, in dem früher die Dorfhochzeiten gefeiert wurden, mit Büchern vollgestellt hat. Dass auch der Öko-Steffen und seine Öko-Beate nette Leute sind, die aber immer so tun, als könnten sie alles besser machen, als es die Dorfbewohner vor ihnen gemacht haben.

In den sechs Jahren, die er in Berlinchen lebt, sagt Dieter Welchering, habe er vielleicht zehn Bücher an die Menschen im Dorf verkauft. In seinem Antiquariat kaufen nur Touristen und Internetkunden ein. Die mehr oder weniger einzige Ausnahme ist Leopold, ein zehnjähriger Junge mit roten Haaren und Sommersprossen, der nach der Schule gerne bei Welchering vorbeischaut und erzählt, was er gelernt hat. Wenn einer seiner Verwandten Geburtstag hat, kauft Leopold in der Schmökerstuw ein Buch als Geschenk, zuletzt zum Beispiel „150 Antworten des bekanntesten Pferdeflüsterers der Welt“ für seine 14-jährige Schwester. Leopold ist Dieter Welcherings bester Kunde in Berlinchen.

Leopold, wenn du groß bist, wo willst du leben?

„Also, ich hab mal drüber nachgedacht, nach Berlin zu gehen. Aber mach ich jetzt doch nicht. Weil da lebt nämlich meine Tante Susi, und die sagt, das ist doof. Die wohnt in einem Hochhaus zur Miete, und die sagt, das ist so klein und so teuer, dafür kann man in Berlinchen zwei Häuser kaufen.“

Und wenn du zwei Häuser in Berlinchen hast, was machst du dann damit?

„In einem können die Berliner wohnen. Wenn sie mal Urlaub machen wollen.“

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