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Berlin-Neukölln: Ein Stolperstein mehr in der Hufeisensiedlung

Im November wurden in Berlin-Neukölln 16 Stolpersteine zu Gedenken an Nazi-Opfer geschändet – sie sind inzwischen ersetzt worden. Nun kommen neue hinzu.

Er fand keinen Frieden. Sogar in Chile nicht, wohin er 1939 aus Deutschland geflohen war. Selbst dort schikanierten ihn Hitlers Gesinnungsgenossen – bis er es nicht mehr aushielt: Am 16. September 1940 nahm sich Adolf Mockrauer im chilenischen Ort Quilpué das Leben. An diesem Sonnabend wurde an den einstigen jüdischen Pharmazeuten aus der Hufeisensiedlung im Neuköllner Ortsteil Britz erinnert.

Bewohner der Siedlung, allen voran die Initiative „Hufeisern gegen Rechts“ sowie der Künstler Gunter Demnig, verlegten einen Stolperstein an der Buschkrugallee 179. Dort steht ein Haus aus den Zwanzigern, in dessen Parterre Adolf Mockrauer eine Apotheke besaß. Er war ein beliebter medizinischer Ratgeber im Kiez, bis die Nazis am 10. November 1938 in seinem Laden alles kurz und klein schlugen und ihn schwer misshandelten.

Mit der Verlegung des neuen Steins für Mockrauer machte die Bürgerinitiative auch deutlich klar, „dass wir uns nicht einschüchtern lassen“. Denn in der Nacht zum 6. November vergangenen Jahres rissen mutmaßlich Neonazis insgesamt 16 Stolpersteine aus Neuköllner Gehwegen, sieben kleine Krater klafften danach allein im Bereich der Hufeisensiedlung im Boden. Die geschändeten Steine erinnerten an ermordete politische Gegner der Nationalsozialisten, so an den Gewerkschafter Heinrich Uetzfeld, die Krankenschwester Gertrud Seele oder den expressionistischen Maler Stanislaw Kubicki.

Viele Neuköllner waren empört. Sie versammelten sich spontan zu einer Protestkundgebung und brachten rund 17 000 Euro Spenden zusammen, um die Steine rasch zu ersetzen. Das geschah bis Mitte Dezember 2017. Und nun sollen neue Stolpersteine hinzukommen – der erste ist Adolf Mockrauer gewidmet.

Rund hundert Menschen, darunter viele Familien, kamen zur Verlegung

Es war wie eine Fügung. Als Gunter Demnig, der Begründer des bundesweiten Stolperstein-Projekts, mit einigen sanften Hammerschlägen den goldglänzenden Stein ins zuvor ausgeschachtete quadratische Loch des Bürgersteigs trieb, kam die Sonne gleißend hinter einer Wolke hervor. Rund hundert Menschen, darunter viele Familien mit Kindern, begleiteten die Szene, ein Akkordeonist spielte jiddische Lieder, Redner riefen zum Widerstand auf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Populismus. Auch der neue Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) und die Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales, Sawsan Chebli, unterstützten in ihren Ansprachen die Aktion.

Ein letztes Mal fegt Demnig Sand weg und wischt über die Schrift. Ein Porträt Adolf Mockrauers steht hinter dem Stein, Menschen legen Rosen und Sommersträuße drumherum ab. Der Name des Apothekers ist in die Oberfläche des Steins gestanzt, darunter steht sein Geburtsdatum: 11.12.1868. Und weiter: „Flucht 1939 nach Chile. Flucht in den Tod 16.9.1940.“

Am 10. November 1928 hatte der damals schon fast 60-Jährige seine "Albrecht-Dürer-Apotheke" in der Britzer Hufeisensiedlung eröffnet. Zehn Jahre später zerstörten Neuköllner SA-Männer seinen Besitz.

Sein Gesicht war von Schlägen der SA-Männer entstellt

Hanns-Peter Herz, Neuköllner Bezirksbaustadtrat in den achtziger Jahren, war zu dieser Zeit zehn Jahre alt und kam auf dem Schulweg frühmorgens an der Apotheke vorbei, als die Nazis gerade wüteten. Später erinnerte er sich: „Das Geschäft war völlig zerstört, die Scheiben eingeschlagen, alle Regale zerhackt, alle Medikamente zertreten, überall lagen Glassplitter von Röhrchen und Flaschen. An den Wänden stand: Juden raus! Mockrauer stand hilflos zwischen den Trümmern seiner Apotheke. Er sah fürchterlich aus, das Gesicht war von Schlägen entstellt, vorn fehlten ihm mehrere Zähne.“

In Chile hetzten deutschstämmige Kolonisten gegen Juden

Ein halbes Jahr später gelang Adolf Mockrauer in letzter Sekunde die Ausreise nach Chile. Zuvor musste er wie alle jüdischen Flüchtlinge sein gesamtes Vermögen der NS-Diktatur überschreiben. Bei seiner Ankunft in Chile war er bereits 72 Jahre alt. Mit dem Land verknüpften damals viele Geflüchtete große Hoffnungen, denn 1937 war dort eine linke Volksfrontregierung an die Macht gekommen. Diese öffnete die Grenzen für Verfolgte aus aller Welt. Doch in den chilenischen Städten endete häufig ihr Einfluss, dort gaben nationalistische, deutschstämmige Kolonisten den Ton an, antisemitisch aufgestachelt durch die NSDAP-Auslandsorganisation.

Diese hetzten gegen Juden und beeinflussten derart die öffentliche Meinung, dass die Regierung unter Druck geriet und zunehmend Restriktionen gegen Asylsuchende aussprach. Schließlich verhängte Chile 1940 sogar einen Einwanderungsstopp. „Für Adolf Mockrauer war das ein Alptraum“, sagte ein Vertreter der Stolpersteininitiative am Samstag. „Gerade dem Hass der Nazis entkommen, wurde er nun erneut von ihnen terrorisiert.“ Was ihn letztlich in den Tod trieb, weiß man nicht. Es lässt sich erahnen.

Die Fahnder haben noch keine Spur zu den Rechtsextremisten

In Neukölln ermittelt seit November 2017 ein Kommissariat für Rechtsextremismus des Staatsschutzes. Eine heiße Spur, wer die 16 Stolpersteine geschändet hat, gibt es noch nicht. Über das Spendenkonto mit 17 000 Euro verfügt inzwischen der Bezirk in Absprache mit der Bürgerinitiative „Hufeisern gegen Rechts“. Das Geld reicht für mehr als für zusätzliche Steine. Es soll auch für Schulprojekte ausgegeben werden, die „Toleranz und demokratische Gesinnung “ fördern.

Mehr Infos: www.hufeiserngegenrechts.de. Die Initiative hat eine Broschüre über Adolf Mockrauers Leben veröffentlicht. Kosten: drei Euro.

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