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Ausgebeutete Flüchtlinge in Berlin: Illegalität macht moderne Sklaverei

Er hat Kisten geschleppt und Kühlschränke, drei Monate für eine Umzugsfirma gearbeitet. Keinen Cent hat der Flüchtling aus Ghana bis heute dafür gesehen. „Du bist ja illegal“, haben sie ihm gesagt. Vielen ist es in Deutschland so ergangen. Ist das Zufall oder System?

Die Beweise sind auf seinem Smartphone gespeichert, und Isaac gefällt es, das zerkratzte Plastikteil aus seiner Hosentasche zu ziehen, mit dem Finger von einem Bild zum nächsten zu wischen. Da sind: der weiße Küchenschrank. Ein Schreibtisch. Der Bauernschrank mit der feinen Maserung und den Zierleisten, da war er beim Aufbauen sehr vorsichtig, sagt Isaac, damit nichts zerschrammte. Dann wieder ein Tisch, ein Bücherregal, der nächste Schrank. Das Doppelbett ist erst zur Hälfte aufgebaut. Es zusammenzusetzen habe Stunden gedauert, das Holz war alt und verzogen.

Es gibt auf Isaacs Smartphone auch Bilder, die ihn auf dem Beifahrersitz eines weißen Sprinters zeigen.

Er trägt ein verschwitztes Shirt, hat dicke Tropfen auf der Stirn, und er grinst. Auf dem Foto wirkt Isaac wie einer, der gerade im Sommerurlaub ist, den Moment für später mit einem Schnappschuss festhalten möchte. Genau das ist der Grund, warum er die Bilder aufgenommen hat. Nicht als Absicherung, um hinterher beweisen zu können, dass er tatsächlich gearbeitet hat. Sondern als Erinnerung, sollte er abgeschoben werden. Im Herbst könnte es so weit sein. Wahrscheinlich zurück nach Italien, woher er eingereist ist. Da hat er auch schon Möbel aufgebaut.

Die ganzen Bilder sind im Sommer 2013 entstanden, als Isaac erlebte, was in Berlin vielen Flüchtlingen widerfährt: für schwarze, aber geleistete Arbeit nicht bezahlt zu werden. Volle drei Monate hat er für ein kleines Berliner Umzugsunternehmen auch Kisten und Kühlschränke Treppen hoch- und runtergeschleppt, davon hat er aber keine Bilder, Isaac fotografiert nur, woran er sich später erinnern möchte. Sieben Euro pro Stunde hatte der Deutsche ihm versprochen, an manchen Tagen durfte er zehn Stunden arbeiten, an anderen gar nicht. Als es nach Ende des ersten Monats kein Geld gab, beruhigte ihn der Deutsche, er müsse sich erst einen Trick einfallen lassen, Isaac das Geld offiziell auszuzahlen, Isaac dürfe ja schließlich als Ghanaer nicht in Deutschland arbeiten. Aber kein Problem, versprach der Mann, wir sind beide auf derselben Seite, ich will dir helfen.

Jetzt sitzt Isaac auf einem metallenen Kinderstuhl vor einem verdreckten Kindertisch auf einem Spielplatz in Marienfelde. Isaac ist einer der Flüchtlinge, die nach Auflösung des Camps am Oranienplatz zunächst im Übergangslager an der Marienfelder Allee untergebracht wurden. Man würde gern viel mehr über Isaac erzählen, zum Beispiel von den tiefen Fleischwunden, die er sich bei seiner Flucht aus Libyen zugezogen hat und die ihm das Kistenschleppen für den Deutschen im letzten Sommer schwer gemacht haben. Aber das geht nicht, weil Isaac auf keinen Fall will, dass Behörden ihn erkennen. Deshalb hat er sich für das Treffen mit dem Reporter den Namen Isaac ausgesucht, deshalb will er nur sagen, dass er ungefähr 40 Jahre alt ist.

Als Isaac nach dem zweiten Monat noch immer kein Geld sah, behauptete der Arbeitgeber, dass wohl der Buchhaltung ein Fehler unterlaufen sein müsse. Doch kein Problem, sagte er wieder, jede geleistete Stunde werde ja notiert und anschließend im Computer gespeichert.

Als Isaac Ende August, nach Monat drei, erneut fragen wollte, war der Mann nicht mehr zu sprechen, angeblich verreist. Dafür sprach dessen Ehefrau, und die sagte: Du kriegst hier kein Geld, du bist doch illegal. Und dann noch: Ruf die Polizei, wenn es dir nicht passt.

Das hat Isaac nicht getan, denn er weiß, dass er in Deutschland nicht arbeiten darf. Die anderen Flüchtlinge haben ihm das gleich nach seiner Ankunft im Frühjahr vergangenen Jahres auf dem Oranienplatz erklärt. Isaac sagt, es erscheine ihm seltsam, dass ein Staat nicht wolle, dass ihm Fremde zur Last fallen – und sie dann aber durch Arbeitsverbot dazu nötige, zur Last zu fallen.

Er hat es trotzdem probiert. Weil er sich Kleidung kaufen und auch dann essen wollte, wenn die Spenden im Infozelt am Oranienplatz wieder nicht für die eine Mahlzeit am Tag gereicht haben. Und weil der Deutsche, den ihm ein anderer Flüchtling aus Ghana vorgestellt hatte, wie ein guter Mensch wirkte.

Zu dem Treffen auf dem Spielplatz in Marienfelde hat Isaac heute seine deutsche Freundin mitgebracht, die beiden haben sich vor kurzem in einem Club kennengelernt. Die Frau versteht wenig Englisch, und schon gar nicht versteht sie, wie sich Isaac das alles hat bieten lassen können. „Warum hast du denn nicht nach dem ersten Monat einfach aufgehört?“

Das könne nur einer verstehen, der selbst in einer vergleichbaren Situation gesteckt habe, sagt Isaac. Dem nur die Wahl bleibe: geduldig weitermachen und auf eine glückliche Wendung hoffen oder zu Hause sitzen und gar nichts tun. Wobei, eigentlich gebe es noch eine dritte Möglichkeit: „etwas Böses anstellen.“ Drogendealen zum Beispiel. Die Flüchtlinge, die im Görlitzer Park Marihuana und Kokain verkaufen, können sich bei Streitigkeiten mit ihren Hintermännern zwar auch nirgendwo beschweren. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass hier regelmäßig Geld fließt. Isaac wollte keine Drogen verkaufen.

Seit Jahren wird über die Frage diskutiert, ob das Arbeitsverbot für Flüchtlinge und insbesondere Asylbewerber der deutschen Gesellschaft eher nützt oder schadet. Was bisher ausgeklammert wird: dass es Menschen gibt, die an der jetzigen Regelung unbedingt festhalten wollen – nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil sonst billige, ausbeutbare Arbeitskräfte abhandenkämen.

In Berlin hat sich mittlerweile eine Initiative von Ehrenamtlichen gegründet, die ausgebeutete Flüchtlinge, die sich wegen fehlender Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis nicht wehren können, unterstützen wollen. Der „Arbeitskreis Undokumentierte Arbeit“ hat sein Büro im Haus des Deutschen Gewerkschaftsbunds in der Schöneberger Keithstraße, Raum 315a, dritter Stock. Alle zwei Wochen sitzen Anna Fuchs und ihre Mitstreiter hinterm Schreibtisch und warten, wer zu ihnen in die Sprechstunde kommt. Es ist sehr mühsam, sagt Anna Fuchs. Viele Flüchtlinge können nicht einmal sagen, wo genau und für wen sie gearbeitet haben. Weil sie zu wechselnden Treffpunkten einbestellt worden sind. Jeden Morgen an eine andere S-Bahn-Station, wo sie warten mussten, bis ein Pkw vorfuhr und sie zu der Baustelle brachte, auf der sie an diesem Tag arbeiten sollten. Ihren Arbeitgeber haben sie oft gar nicht kennengelernt, stattdessen wurden sie von einem Landsmann angeworben, der im Auftrag des Unternehmers Arbeitskräfte sucht. Diese Mittelsmänner, sagt Anna Fuchs, bekämen übrigens nach erfolgreichem Ködern tatsächlich ihr Geld ausbezahlt.

Theoretisch können auch Illegale ihren Lohn vor einem Gericht einklagen. Es spielt nachträglich keine Rolle, ob eine Arbeitserlaubnis vorlag oder nicht. Allerdings wird der Betroffene dadurch aktenkundig, sagt Fuchs. Und nach Paragraf 87 des Ausländergesetzes sind öffentliche Stellen, sobald sie von illegaler Tätigkeit erfahren, zu einer Meldung an die Ausländerbehörde verpflichtet.

Die meisten Flüchtlinge, die zu Anna Fuchs in die Beratung kommen, haben zuvor auf Baustellen oder in Restaurants gearbeitet. Auch einige der Bulgaren, die bis vor wenigen Monaten in der Eisfabrik an der Köpenicker Straße gelebt haben, warten bis heute auf ihren Lohn für Aushilfsarbeiten auf verschiedenen Baustellen.

In der Hotelbranche gibt es ebenfalls reichlich Fälle. Zum Beispiel der von Amari. Der Nigerianer hat einen Monat lang in der Filiale einer Hotelkette gearbeitet, nicht weit vom Alexanderplatz entfernt. Drei Zimmer pro Stunde sollte er putzen, sechs Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Für acht Euro Stundenlohn, das sind fünf mehr, als sein Freund Tyres fürs illegale Tellerabwaschen in Kreuzberg bekommt.

Amari ist fleißig, Amari kann anpacken, habe sein Vorgesetzter manchmal gelobt. Als Amari etwa 400 Zimmer geputzt hatte, sagte der Mann, dass leider keine gültigen Papiere vorlägen und Amari deshalb, das Gesetz wolle es so, kein Geld erwarten könne.

Ruft man heute bei dem Hotel an und schildert den Fall, erhält man zur Antwort, dass die Zimmerreinigung gar nicht von den eigenen Angestellten, sondern von einer beauftragten Firma erledigt werde. Dort wiederum heißt es, der Betroffene habe bis heute versäumt, ein wichtiges Formular einzureichen. Welches genau das sei, könne man gerade nicht sagen, aber das lasse sich sicher demnächst klären.

Amari kennt vier weitere ehemalige Flüchtlinge vom Oranienplatz, die alle in demselben Hotel geputzt haben wollen und ebenfalls nach einem Monat ohne Bezahlung vor die Tür gesetzt worden seien. Er sagt, das könne unmöglich Zufall sein, das habe System, und nicht nur in diesem einen Haus. „Was uns passiert, passiert deswegen“, sagt er und zieht mit der rechten Hand an der Haut seines linken Unterarms, so als wolle er sie abziehen. Besonders wütend wird er, wenn er an die deutsche Firma Bilfinger denkt, deren Angestellte in seiner Heimat Nigeria reihenweise Brücken bauen, ohne dass sie vorher für eine Arbeitserlaubnis kämpfen müssen.

Amari ist Christ, jedenfalls im Grundsatz, sagt er. Und er zitiert aus der Bibel. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, heißt es im 1. Buch Mose. Das sei doch nicht schwer zu verstehen. Erst arbeiten, dann essen.

Anna Fuchs vom „Arbeitskreis Undokumentierte Arbeit“ sagt, dass es durchaus schon Versuche gab, Menschen wie Isaac oder Amari zu ihrem Lohn zu verhelfen. Und dass manche davon Erfolg hatten. Da ist etwa die Kolumbianerin, die vor einigen Jahren nach Hamburg kam und erst als Au-pair, dann illegal für ein Taschengeld bei einer Familie in Blankenese arbeitete. Nach drei Jahren wendete sie sich an die Gewerkschaft Verdi, die einen Prozess vor dem Arbeitsgericht anstrengte. Der Richter sicherte im Vorfeld zu, dass er ihren illegalen Status weder Polizei noch Ausländerbehörde melden würde.

Isaac, der Möbelpacker, hat später noch einmal versucht, seinen Lohn zu bekommen. Der Mann, der ihn angestellt und drei Monate lang eingesetzt hatte, tat nun so, als kenne er ihn gar nicht. Tut mir leid, sagte er. Da müsse Isaac das Unternehmen verwechselt haben. Aber falls er wolle, könne er gern wiederkommen und einen Tag zur Probe arbeiten. Bedarf gebe es genug.

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