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Vom Landtag ins Rathaus. René Wilke war in Potsdam anerkannt, nun will er Frankfurt (Oder) regieren.

© Kai-Uwe Heinrich

Brandenburg: Aufbruch im Osten

Sonntag wird der 33 Jahre alte Linke-Politiker René Wilke in der Marienkirche zum Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) ernannt. Er wird der jüngste in diesem Amt in Brandenburg sein

Frankfurt (Oder) - Er zögert. Die Urkunde liegt bereit – und René Wilke lässt die Sekunden verstreichen. Als müsste er sich im letzten Moment überlegen, was die Unterschrift unter seine Mandatsniederlegung für ihn bedeutet. Der Abschied vom Landtag Brandenburg, in dem er seit Herbst 2014 für die Linke Abgeordneter war, fällt dem 33-Jährigen sichtlich schwer. Klar, sagt er später, hier kenne er sich aus.

Auf den Landtagsfluren begegnen ihm an diesem Donnerstag Ende April die Kollegen, schütteln Hände oder klopfen ihm auf den Rücken. Fraktionsübergreifend nehmen sie Abschied, auch die Kollegen von der CDU. Nicht nur als haushaltspolitischer Sprecher der Linken hat er sich einen Namen gemacht. Bei der einst geplanten, dann wegen des großen Widerstands abgesagten Kreisreform ist er gegen den rot-roten Strom von SPD und Linke geschwommen, hat sich der Stimme enthalten. Doch mit der Arbeit als Abgeordneter ist nun Schluss für René Wilke. Der gebürtige Frankfurter wird am Sonntag um 14 Uhr in der Marienkirche zum neuen Oberbürgermeister seiner Heimatstadt ernannt. Er ist dann der jüngste Oberbürgermeister in Brandenburg.

Schwenk nach Osten. Frankfurt (Oder). Nur 80 Kilometer von Berlin entfernt, der Regionalexpress fährt alle 30 Minuten. Eine Stunde dauert die Fahrt bis zur „Hauptstadt Ostbrandenburgs“, ein Slogan, den René Wilke im Wahlkampf benutzt hat. Hauptstadthektik herrscht dort genau zweimal am Tag. Morgens zum Beispiel, wenn die Studenten, die aus Berlin kommen, den Bahnhofsberg zur Universität herunterlaufen. Gerade ist die Viadrina vom unabhängigen Bewertungsportal „studycheck“ zur beliebtesten Uni Deutschlands gewählt worden. 6500 Studierende aus 107 Ländern garantieren Internationalität, der Campus liegt direkt an der Oder, die Atmosphäre auf der Mensa-Terrasse am Wasser ist an Sonnentagen mediterran.

Doch der Zug der Studierenden kehrt der Stadt am Abend auch wieder den Rücken. Die meisten von ihnen pendeln. Zurück bleiben die Frankfurter. 90 000 Einwohner zählte die Stadt, als die Mauer fiel. Seither ist fast ein Drittel gegangen. Der Taxifahrer erzählt von den Enkeln, die im Westen groß werden, da, wo seine Kinder Arbeit gefunden haben. Die Straßen sind breit und häufig menschenleer – als wäre ein Anzug zu groß geworden. Geplatzte Träume wie das gescheiterte Großprojekt Chipfabrik oder die Pleite des Unternehmens First Solar, die 1200 Arbeitsplätze vernichtete, haben Frankfurt mächtige Wunden geschlagen. Die Stadt ist hoch verschuldet, die Kinderarmut hier am größten in Brandenburg.

66 Prozent der Wähler haben in der Stichwahl am 18. März für Wilke gestimmt, der parteilose Amtsinhaber Martin Wilke – beide sind nicht verwandt – muss gehen. Das Ergebnis ist ein Vertrauensvorschuss, den er sich durch seine Art des Wahlkampfs erarbeitet hat: In Wohnzimmergesprächen traf er sich mit Frankfurtern, mal waren es vier, mal zehn. Er hat ihnen zugehört, mit ihnen diskutiert. Er hat in den sozialen Medien wie Facebook kommuniziert, wie er sich den Umbau der Verwaltung vorstellt. Und er hat Zukunftswerkstätte initiiert, in denen politisch völlig unterschiedliche Argumente aufeinanderprallten. „Dort haben die Bürger konkret erfahren, was das, was sie wollen, für den anderen bedeutet. Und sie haben sich an Empathie erinnert.“ Die fehlt, das sagt er deutlich. „Ich selbst first“, diese Haltung in Anlehnung an den Trump-Slogan „America first“ sei ihm im Wahlkampf oft begegnet, Ausdruck des neuen Egoismus. Nicht nur in Frankfurt.

Er macht das nicht mit. Seine Themen sind sozialer Zusammenhalt, Schwächeren helfen, Verantwortung füreinander übernehmen. Fünf Jahre lebte er als Kind ab 1990 in Moskau, seine Mutter ist Russin. Dort erlebte er Armut und soziales Elend. Das habe ihn politisiert. Mit 16 Jahren tritt er in die PDS ein. René Wilke hält nichts von Wut, Tiraden und Polemik gegen den politischen Gegner. Er lebt – anders als mancher in seiner und anderen Parteien – einen Politikstil, der auf Gemeinsamkeiten setzt statt auf Trennendes. Deshalb werden seiner Verwaltungsspitze vermutlich Menschen aus vier Parteien und zwei Parteilose angehören. Seit er weiß, dass er die Geschicke der Stadt in den nächsten acht Jahren lenken soll, plant er die ersten 100 Tage akribisch.

„We love Frankfurt (Oder)“ titelt die sonst so spitzzüngige taz wie berauscht nach Wilkes Wahl auf ihrer Titelseite. „Wie sich eine Stadt neu erfindet“. Christian Bangel, Chef von ZeitOnline und gebürtiger Frankfurter, hat schon vor der Stichwahl im März gestaunt: Die Menschen wählten plötzlich weltoffen und die Stadt hat sich verändert, „in der wir unsere Eltern zurückgelassen haben. Und jetzt ist das erst richtig zu sehen.“

Auch andere überregionale Blätter jubeln über den Sieg des Linken-Kandidaten, der von den Grünen unterstützt wurde. Als wäre eine neue Zeitrechnung angebrochen, als wäre die Stadt nun das Symbol der Hoffnung im Osten.

Bei der Oberbürgermeisterwahl ist AfD-Kandidat Wilko Möller im ersten Wahlgang mit 17 Prozent ausgeschieden. Und AfD-Chef Alexander Gauland unterliegt als Zweitplatzierter bei der Bundestagswahl im September 2017 Martin Patzelt von der CDU. Trotz der Debatte um die Flüchtlingspolitik. Aber der künftige Oberbürgermeister bremst die Euphorie: „Natürlich ist Frankfurt nicht Nazi-frei, nicht mit 17 Prozent für die AfD.“ Aber: Das Klima habe sich verändert. Der Schlüssel dazu: „Begegnung, Begegnung, Begegnung!“ Mit den Polen, zu denen man einfach über die Brücke gehen kann – und zu den Geflüchteten, die in Frankfurt dezentral untergebracht sind. Er sieht Frankfurt in europäischer Verantwortung. „In Zeiten von Brexit, nationalen Egoismen und Abgrenzung gibt es ein kleines Städtchen an der Grenze zu Polen, das mit seiner Nachbarstadt Slubice zusammenarbeitet, wie das nirgendwo in Europa in dieser Intensität geschieht.“ Gleichzeitig geht es darum – wie an vielen anderen Orten im Osten – wieder Bedeutung zu erlangen, wieder etwas wert zu sein.

Nun ist er der Hoffnungsträger. Den Druck spürt er. Vermutlich wird er künftig nicht mehr auf jede Mail, jede SMS oder WhatsApp-Nachricht persönlich antworten können. Er ahnt den Sog der Politik, der ihn möglicherweise von denen entfremdet, für die er arbeiten möchte. Vielleicht hat er auch deshalb gezögert mit seiner Unterschrift. Aber er hat sie schließlich gesetzt. Ein neues Kapitel ist aufgeschlagen. Claudia Seiring

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