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Am Tatort. Innensenator Andreas Geisel (rechts) und der Gesandte der italienischen Botschaft, Alessandro Gaudiano, gedachten am Donnerstag der Opfer.

© B. Pedersen/dpa

Brandenburg: Auf der falschen Fährte

Der vermeintliche Kontaktmann des Täters ist wieder frei. Das Terrorabwehrzentrum befasste sich mehrfach mit Anis Amri – die Anschlagsgefahr wurde aber als unwahrscheinlich eingestuft

Der in Tempelhof als mutmaßlicher Kontaktmann von Anis Amri festgenommene Verdächtige ist frei. Das sagte eine Sprecherin des für Terrorverfahren zuständigen Generalbundesanwalts (GBA) am Donnerstag in Karlsruhe. Der 40-jährige Tunesier war am Mittwoch vorläufig festgenommen worden, weil er von Amri vor dem Weihnachtsmarktattentat via Handy benachrichtigt worden sein sollte. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass es sich „nicht um die mögliche Kontaktperson von Anis Amri handelt“. Allerdings stuften die Ermittler das Bekennervideo als „authentisch“ ein. Es zeigt wie berichtet den 24-jährigen Tunesier Amri in Moabit, wie er den Massenmördern vom Islamischen Staat (IS) die Treue schwört. Er richtet sich in dem Video an die „Kreuzzügler“: „Wir kommen zu euch, um euch zu schlachten, ihr Schweine.“ Es werde Rache für das Blut von Muslimen geben, das vergossen wurde. Dabei steht Amri offensichtlich auf einer Brücke. Hinter ihm ist ein Gewässer zu sehen. Die Aufnahme könnte in Deutschland aufgenommen sein.

Amri hat den Ermittlungen zufolge am 19. Dezember zwölf Menschen getötet, darunter den polnischen Fahrer eines entführten Sattelschleppers. Bei dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche wurden 55 Männer und Frauen verletzt, einige liegen noch in Kliniken. Inzwischen gebe es auch neue Erkenntnisse zur Flucht, teilte die GBA mit. So sei Amri „über die Niederlande nach Frankreich und Italien gereist“. Dort starb er bei einem Schusswechsel mit Mailänder Polizisten. Amri hat den Ermittlern zufolge sowohl in Mailand und Berlin mit einer bestimmten Waffenart des Kalibers 22 geschossen. Nicht geklärt ist der GBA-Sprecherin zufolge jedoch, ob es sich um dieselbe Waffe handele. Dies werde noch untersucht.

In Berlin erschoss Amri vorläufigen Erkenntnissen zufolge den polnischen Lastwagenfahrer Lukasz Urban, dessen Truck er für das Attentat nutzte. Urban ist mit Kopfschuss und anderen Verletzungen gefunden worden. Diese Wunden, so erste Mutmaßungen, stammten wohl von einem Kampf mit dem Attentäter. Deshalb waren viele davon ausgegangen, dass der Trucker durch sein Eingreifen verhindert habe, dass der Attentäter noch mehr Menschen tötete. Einige Medien meldeten zuletzt jedoch, Urban sei schon Stunden vor der Tat erschossen worden.

Nun heißt es von der GBA, die Wunden seien zwar keine Stichverletzungen und der Truck sei wegen einer Bremsautomatik stehen geblieben, also wohl nicht durch Urbans Eingreifen. Der Lkw-Fahrer habe aber dennoch bis zum Attentat gelebt. Urban wird an diesem Freitag in Polen beigesetzt.

Amri war polizeibekannt und wurde auch in Berlin überwacht. Im Herbst 2016 wurde die Observation abgebrochen, rechtlich gesehen sei sie nicht länger möglich gewesen, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Amri war mehrfach im Fokus der Ermittlungsbehörden. Nach Informationen von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR wurde im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) von Bund und Ländenr in Berlin zwischen Februar und November 2016 mindestens sieben Mal über Amri gesprochen. Behördenunterlagen, die nur fünf Tage vor der Tat entstanden, würden seinen Werdegang in Deutschland beschreiben.

Den Angaben zufolge soll der Tunesier im Internet Anleitungen zum Bau von Rohrbomben und zur Herstellung von Sprengstoffen wie TNT gesucht haben. Zudem habe er offenbar schon im Februar Kontakt zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ gesucht und sich als Selbstmordattentäter angeboten. Mindestens zweimal sei im Terrorabwehrzentrum die Frage diskutiert worden, ob Amri einen konkreten Anschlag in Deutschland plane. Beide Male sei dies als unwahrscheinlich eingestuft worden.

Nach Informationen des „Spiegel“ ermittelte die Staatsanwaltschaft Duisburg im April 2016 wegen Betrugs gegen Amri, weil der Tunesier mehrfach Sozialleistungen erschlichen haben soll.

Nur wenige Minuten vor der Tat soll Amri aus dem Führerhaus des Lkw eine Botschaft an einen Vertrauten verschickt haben. Amri schrieb den Medienberichten zufolge: „Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto, bete für mich mein Bruder, bete für mich." Danach habe er ein Foto von sich aus dem Lkw verschickt.

Noch sind zahlreiche Fragen zur Flucht und zu Kontakten des Islamisten unbeantwortet. Der Berliner Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Grüne) sagte dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“: „Wenn wir von der Bundesregierung nicht schnell klare Informationen bekommen, werden wir im Eilverfahren einen Untersuchungsausschuss beantragen.“ Die Linke wirft den Sicherheitsbehörden so schwere Fehler vor wie im Fall der rechten Terrorgruppe NSU. Das „Versagen“ im Fall Anis Amri gleiche demjenigen beim Umgang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund, sagte Linke-Fraktionsvize Frank Tempel der „Berliner Zeitung“. „Ich sehe auf jeden Fall ein Behördenversagen.“ Es habe genug Hinweise gegeben, die Toten des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt hätten verhindert werden können. Tempel sagte, einen Untersuchungsausschuss, wie er sich derzeit mit dem NSU befasst, sei vor der Bundestagswahl im kommenden Herbst nicht mehr zu schaffen. „Aber wenn der Fall nicht aufgeklärt wird, dann müssen wir nach der Bundestagswahl einen Untersuchungsauftrag beantragen.“(mit dpa)

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