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Noël Martin heute.

© privat

Angriff vor 20 Jahren auf Noël Martin in Brandenburg: Sein persönlicher Sieg

Vor 20 Jahren haben Neonazis Noël Martin im brandenburgischen Mahlow angegriffen. Seitdem ist er schwerbehindert. Aufgegeben hat er nicht, sondern die Aussöhnung vorangetrieben

Seid umsichtig, schaut euch selber an, sucht nicht nach Steinen oder Prügeln, die Knochen brechen, sucht nach Frieden und Gelassenheit, um mit anderen zusammenzuleben, nicht allein.

Noël Martin, Auszug aus dem Gedicht „Der Stein von Mahlow“

Man muss sich das mal vorstellen. Da wird ein 36 Jahre alter britischer Mann, der als Bauarbeiter nach der Wende den Osten mit aufbauen will, von zwei Brandenburger Neonazis zum Schwerbehinderten gemacht, vom Hals abwärts gelähmt, und doch glaubt er wieder an das Gute und kann so versöhnliche Zeilen schreiben wie in seinem Gedicht.

Der Überfall war am 16. Juni 1996. Da haben die Rechtsradikalen Martin, den sie zuvor am Bahnhof Mahlow angepöbelt hatten, mit einem gestohlenen Auto verfolgt und ihm einen Stein durch die Heckscheibe geworfen. Martin verlor die Kontrolle über sein Auto und bricht sich beim Unfall zwei Halswirbel.

Aus dem Krankenhaus kommt Noël Martin als vom Hals abwärts querschnittsgelähmter, völlig auf die Hilfe anderer angewiesener Mensch.

Die Gemeinde Blankenfelde-Mahlow engagiert sich gegen das Vergessen

20 Jahre ist das jetzt her. Jahre, in denen die Gemeinde Blankenfelde-Mahlow sich gegen ein Vergessen und Verdrängen engagiert hat. An diesem Jahrestag vor einer Woche wurde in der Astrid-Lindgren-Grundschule am Glasower Damm gegenüber dem Tatort, an dem ein Mahnmal steht, an die rassistische Gewalttat erinnert. Noël Martin war per Videobotschaft anwesend. Er dankte den Bürgern, die alle Jahre wieder zusammenkommen, um an ihn zu erinnern, und er grüßte den „Lord Mayor“. Den Bürgermeister, von dem Martin mit seinem typischen Humor sagt: „I don’t think I know him ’cos they keep changing them.“ Wer gerade Bürgermeister sei, wisse er nicht, man pflege diese ja auszuwechseln.

Nun, es war Bürgermeister Ortwin Baier, es kamen auch Staatssekretär Thomas Drescher, Landrätin Kornelia Wehlan und 100 Einwohner, um für Toleranz und Menschlichkeit einzustehen. Bürgermeister Baier erinnerte an den Aufbruch und an die Resignation in der Nachwendezeit, die den radikalen Gedanken Aufwind gaben. Doch „das Antlitz der Gemeinde hat sich in den letzten 20 Jahren stark gewandelt. Viele Tausend neue Bürgerinnen und Bürger aus anderen Teilen Deutschlands und der ganzen Welt sind zugezogen. Heute leben 65 Nationen weitgehend friedlich in Blankenfelde-Mahlow zusammen“. Das Bundesfamilienministerium verlieh Mahlow vor einigen Jahren den Titel „Ort der Vielfalt“. Dazu trägt auch das Engagement des aus Jamaika stammenden Briten bei.

Martin hat nicht aufgegeben - sich selbst nicht und seinen Humor auch nicht

In seiner Grußbotschaft gab er allen symbolisch „a pat on the back“, einen Klaps auf die Schulter, um für die Treue zu danken. Und bat darum, zugunsten seiner Stiftung zu spenden. Dank der Stiftung waren nach zweijähriger Pause auch sieben Jugendliche und drei Betreuer aus Birmingham im Rahmen des Jugendaustauschs in Mahlow, wo am vergangenen Sonnabend ein „Fest der Vielfalt“ gefeiert wurde.

Am 20. Jahrestag seines Lebens als pflegebedürftiges Rassismus-Opfer ging es Martin „relativ gut“ , wie Michael Ferguson, ein langjähriger Berliner Vertrauter mitteilte, genauer: „Etwas besser als in den letzten beiden Jahren. Aber zu behaupten, es geht ihm gut, kommt mir, um ehrlich zu sein, fast zynisch vor.“ Seit einem Herzinfarkt 2014 leide Martin an Blackouts. Doch wer Martin schon mal in seinem Zuhause in Birmingham besuchen konnte, in dem ihn früher seine inzwischen verstorbene Frau pflegte, weiß, dass er nicht aufgegeben hat – sich selbst nicht und auch seinen Humor nicht.

Auch britische Jugendliche sind bei ihm gewesen und haben sich von Martins Kämpfernatur beeindrucken lassen. Gerade hat ihm Casey Bailey, ein junger Fußballtrainer, erneut einen Rap gewidmet, der auch in Mahlow zu hören war. Der Rap heißt „Champion“. Casey war 2011 dabei, als eine Jugendgruppe aus Birmingham nach Mahlow kam, und auch 2012, als die Blankenfelde-Mahlower in Birmingham waren. Auch Menschen wie Lincoln Moses, Chef des Fußballvereins Continental Star CSFC, sind ein Halt für Noël Martin.

Seiner Ankündigung, an seinem 48. Geburtstag, dem 23. Juli 2007, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist keine Tat gefolgt, weil er die Erfolge dieser Jugendbegegnungen nicht gefährden wollte. Gegen einen Freitod in der Schweiz habe er sich auch wegen der Stiftung entschieden, sagt Martin: „Ich will nicht, dass die Stiftung am Ende nichts erreicht hat, wenn ich sterbe.“ Und: „Ich wollte nicht, dass die Neonazis ihren Sieg erklären konnten.“ Farbige wie Martin wissen, dass noch heute Schwarze in Berlin abfällig als „Affen“ tituliert oder alteingesessene Berliner mit dunkler Hautfarbe pauschal für Flüchtlinge gehalten werden.

An den schlimmen Tag vor 20 Jahren wollte Martin sich selbst nicht erinnern. Die beiden Täter, die das Landgericht Potsdam im Dezember 1996 zu Haftstrafen von fünf und acht Jahren verurteilt hatte, „überlasse ich Gott. Sie werden ihre Strafe bekommen, wenn sie alt sind“. Dann würde, so malt er es sich aus, ihre Tochter oder Enkeltochter oder Urenkelin mit einem farbigen Menschen nach Hause kommen und sagen: „Das ist der Mensch, den ich liebe – und du bist zu alt, um etwas dagegen zu tun.“

Annette Kögel

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